Aus der Sicht des Ulbricht-Regimes war der Berliner Mauerbau in der Nacht auf den 13. August 1961 – das heisst die hermetische Abriegelung Ostberlins vom Westberlin – ein Gebot zwingender Logik. Die Machthaber in der früheren sowjetischen Besatzungszone mussten dieses Schlupfloch schliessen, wenn sie die drohende Ausblutung ihres so genannten „Einheitsstaates“ – ein Euphemismus für ein Zwangssystem nach sowjetischem Muster – verhindern wollten.
Konsternation und Empörung
Allein im August 1961 waren 47 437 DDR-Bürger über die damals noch offene sowjetische Sektorengrenze nach Westberlin geflüchtet. Zwischen 1949 und 1961 verliessen um die 3.5 Millionen DDR-Bürger ihr Land Richtung Westen – obwohl das Ulbricht Regime die Grenzen ausserhalb Westberlins bereits seit 1952 dicht gemacht hatte. Man nannte dieses Exodus damals „Abstimmung mit den Füssen“.
Für die zurückgebliebenen und jetzt eingeschlossenen Einwohner der DDR war der Mauerbau natürlich eine Tragödie. Im Westen herrschte Konsternation und weit herum Empörung. Anscheinend hatte kaum jemand ernsthaft mit einem derart drastischen Schritt des DDR-Regimes gerechnet.
“Antifaschistischer Schutzwall“
Aber hätte der Mauerbau konkret verhindert werden können? Über die Propaganda der kommunistischen Machthaber in Ostberlin und im übrigen Ostblock braucht man nicht weiter zu reden. Sie deklarierte die Sperrmauer zum „antifaschistischen Schutzwall“. Gemäss dieser verlogenen Terminologie musste sich das DDR-Regime gezwungenermassen gegen eine (laufende oder bevorstehende) Aggression aus Richtung Westen zur Wehr setzen. Die Verlogenheit dieser Behauptung wird allein schon durch die Tatsache entlarvt, dass die Todesstreifen, Hundelaufanlagen und Flutlichter, die mit zum monströsen Absperrsystem gehörten, ja durchwegs auf der östlichen Seite installiert waren – eben um die „Republikflucht“ der eigenen Bürger mit allen Mitteln zu verhindern.
Durchaus realistisch hingegen ist die These, dass der Bau der Berliner Mauer nur durch einen Krieg hätte verhindert werden können. Mit andern Worten: Die Westmächte, deren alliierte Rechte ja durch die einseitige Veränderung des Status quo in Berlin tangiert wurden, hätten mit Gewalt die Errichtung der Mauer verhindern müssen. Dieses Risiko wollte keine westliche Regierung eingehen.
Nicht unglücklich über deutsche Teilung
Denn mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte ein solches Eingreifen zu einer direkten Konfrontation mit sowjetischen Streitkräften geführt – mit unabsehbaren weiteren kriegerischen Konsequenzen. Präsident Kennedy, damals erst ein paar Monate im Amt, soll die Interessenabwägung mit folgendem Satz auf den Punkt gebracht haben: „Eine Mauer ist verdammt viel besser als ein Krieg.“ Das war zwar kein besonders heroisches Diktum, aber es entsprach, erst 16 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zweifellos dem mehrheitlichen Empfinden der Bürger in den USA und in Europa.
Insbesondere in Europa war man über die deutsche Teilung, allen Lippenbekenntnissen zu einer Wiedervereinigung des nach 1945 schrittweise getrennten Landes zum Trotz, im Grunde nicht unglücklich – was nicht heisst, dass man das DDR-Regime sympathisch fand und dessen diktatorische Herrschaftsmethoden kritiklos akzeptiert hätte. Doch die Vorstellung einer Wiederherstellung Deutschlands in der Grössenordnung, wie es vor dem Zweiten Weltkrieg bestanden hatte, mit rund 80 Millionen Einwohnern, das weckte damals weit herum untern den nahen und fernern Nachbarn misstrauische Gefühle.
Wie distanziert im europäischen Einzugsbereich in Wirklichkeit die Einstellungen zu einer Überwindung der deutschen Teilung waren, illustriert das dem französischen Schriftsteller und Nobelpreisträger François Mauriac zugeschriebene Bonmot: „Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich lieber zwei davon habe.“ Auch ist es ja kein Geheimnis, wie unverblümt Frankreichs Präsident Mitterrand und die britische Regierungschefin Thatcher sich unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des DDR-Regimes anfänglich dagegen sträubten, dem Zusammenschluss der beiden deutschen Teilstaaten ihren Segen zu geben.
Stalins Deutschland-Note von 1952
Zu den historischen Realitäten der deutschen Nachkriegsteilung und des Berliner Mauerbaus im August 1961 gehört indessen auch, dass der damalige Bundeskanzler Adenauer und mit ihm wohl die Mehrheit der ihn unterstützenden westdeutschen Wähler nicht gewillt waren, in eine Wiedervereinigung unter den Bedingungen einzuwilligen, wie sie die Sowjetunion mit der berühmten Stalin-Note von 1952 vorgeschlagen hatte: Die Bundesrepublik und die DDR sollten zwar zu einem gemeinsamen Staat vereinigt werden, doch müsste sich dieser zu einer neutralen Politik verpflichten, sich also keinem Bündnissystem anschliessen dürfen.
Diese zentrale Bedingung wiesen Adenauer und die Westmächte als inakzeptabel zurück. Adenauer war zutiefst von der Überzeugung durchdrungen, dass Deutschland nur im atlantischen Verbund, das heisst als Teil der westlichen, Wertegemeinschaft eine demokratische und stabile Zukunft haben konnte. Nur eingebettet in diese Allianz, so war er überzeugt, würde Deutschland von den alten Versuchungen eines deutschen Sonderweges, einer gefährlichen Schaukelpolitik zwischen West und Ost oder dem Wiederaufleben deutscher Grossmachtträume bewahrt bleiben.
Adenauer misstraute den Deutschen
Der Rheinländer Adenauer, der aus seiner Distanz zu den preussischen Traditionslinien nie ein Hehl machte – so formulierte es einmal ein guter Kenner seiner politischen Motive – „misstraute eigentlich den Deutschen“. Er wollte Westdeutschland nicht in das seiner Meinung nach unberechenbare Abenteuer einer neutralen staatlichen Existenz mitten in den widerstreitenden Kräftefeldern zwischen dem kommunistischen Ostblock und dem demokratisch-marktwirtschaftlichen Bündnissystem des Westens führen. Adenauer war gleichzeitig überzeugt, dass auf lange Sicht die Attraktivität der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Westen sich in ganz Europa durchsetzen und das Zwangssystem der DDR früher oder später zum Einsturz bringen würde.
Die Geschichte hat diese Argumentation, die gerade in Westdeutschland alles andere als unumstritten war, 28 Jahre später beim Berliner Mauerfall vollumfänglich bestätigt – eine für die meisten Zeitgenossen völlig überraschende Wende, jedenfalls was den Zeitpunkt und die Schnelligkeit der Entwicklungen im Jahre 1989 betraf. Noch drei Jahre zuvor war der 25. Jahrestag des Berliner Mauerbaus im Westen mehr oder weniger achselzuckend als vorläufig nicht änderbare Tatsache hingenommen worden. Das Honecker-Regime in Ostberlin wiederum feierte den Mauerbau mit scheinbar unerschüttertem Selbstvertrauen mit der Herausgabe einer Sondermarke, auf der die Aufschrift „25 Jahre antifaschistischer Schutzwall“ prangte.
Ohne Gorbatschows historische Einsicht und Grösse, diesen Auflösungsprozess nicht mit militärischer Macht zu verhindern, wäre das Ende der Berliner Mauer und die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten zum damaligen Zeitpunkt vielleicht nicht zustande gekommen - oder es hätte sich unter ungleich weniger friedlichen Umständen abgespielt. Auch der amerikanische Präsident George Bush senior spielte bei jenem für ganz Europa glückhaften Geschehen eine überaus konstruktive Rolle.
Kein Schachspiel - eher ein Fussballspiel
Fazit: Ohne Krieg oder eine von Stalin 1952 vorgeschlagene Neutralisierung von ganz Nachkriegsdeutschland hätte sich der Bau der Berliner Mauer vor fünfzig Jahren nicht verhindern lassen. Eine weitere Einsicht: Grosse und dramatische politische Entwicklungen lassen sich in der Geschichte nie zuverlässig voraussagen, schon gar nicht was den Zeitpunkt betrifft. Das belegt sowohl der Bau der Berliner Mauer vor fünfzig Jahren als auch deren überraschender Fall 28 Jahre später. Der britische Historiker Niall Ferguson hat diese Erkenntnis in seinem neuen Buch „Civilization“ über Aufstieg und Auflösung grosser Imperien mit folgenden Analogien erklärt: Historische Prozesse spielten sich nicht nach dem Muster eines Schachspiels mit seinen streng logischen Regeln ab. Eher seien geschichtliche Entwicklungen mit einem Fussballspiel zu vergleichen, bei dem bis zur letzten Minute völlig überraschende Wendungen möglich sind.