Was ist Bewusstsein? Vor 25 Jahren stritten sich der Neurowissenschaftler Christof Koch und der Philosoph David Chalmers über diese Frage. Koch vertrat die These, dass das Phänomen des Bewussteins auf der Basis neurophysiologischer Vorgänge erklärbar sei. Dagegen erhob der damals kaum bekannte Chalmers den kecken Einwand, dass der neurophysiologische Kenntnisstand allein, und mag er noch so hoch sein, nicht erklären könne, wie Bewusstsein aus Gehirnprozessen entsteht.
Und Chalmers prägte einen mittlerweile notorischen Begriff für diese Unzulänglichkeit: das «harte Problem» des Bewussteins. Koch ging mit Chalmers eine Wette ein: Im Jahre 2023 würde man ein neuronales Muster entdeckt haben, von dem aus man auf bewusstes Verhalten schliessen könne. Wettgewinn: Eine Kiste Wein. Chalmers erhielt sie im Juni 2023.
Das harte Problem
Was genau ist das harte Problem? Wir fühlen Schmerzen, wir sehen Farben, wir hören andere Menschen reden, wir machen die Erfahrung, ein Ich zu sein, das all dies wahrnimmt. Zwischen Gehirn und Gedanken geschieht etwas Rätselhaftes. Aus etwas Materiellem – neuronalen Ereignissen – entsteht etwas Nichtmaterielles – bewusste Zustände von Personen. Man spricht auch von «Emergenz». Aber die Aussage «Bewusstsein emergiert aus dem Gehirn» ist eine Beobachtung, keine Erklärung – obwohl sie oft als eine solche missverstanden wird.
Die Zuversicht Kochs lässt sich aus der jüngeren Geschichte der Hirnforschung verstehen. 1990 publizierte er mit dem Nobelpreisträger Francis Crick ein wegweisendes Paper: «Towards a Neurobiological Theory of Consciousness». Darin steht manifestartig: «Wir wollen annehmen, dass bestimmte Tierarten, im Besonderen die höheren Säugetiere, einige wesentliche, nicht notwendig alle Merkmale des Bewusstseins haben. Deshalb könnten geeignete Experimente relevante Hinweise auf die Mechanismen geben, die dem Bewusstsein zugrunde liegen. Wir erachten es auf dieser Forschungsstufe als nicht vorteilhaft, darüber zu diskutieren, ob Tiere wie Kraken, Fruchtfliegen oder Fadenwürmer bewusst sind. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass Bewusstsein (…) mit der Komplexität des Nervensystems korreliert ist.»
Das Neurobiologie-Paradigma
Das war sozusagen die Verkündung des Neurobiologie-Paradigmas in der Bewusstseinsforschung. Es legte die investigative Blickrichtung fest: vom materiellen Substrat Gehirn zum immateriellen Resultat Bewusstsein. Koch und Crick drückten sich nota bene vorsichtig aus. Sie sprachen nicht von einem kausalen Konnex zwischen Gehirn und Bewusstsein, sondern bloss von Korrelation. Das genügte allerdings. Ihr Manifest löste eine Lawine von Studien und Projekten aus, die in den letzten drei Jahrzehnten das alte «harte» cartesianische Gehirn-Geist-Problem in wissenschaftliche Modelle und Experimente übersetzten. Eine reiche Ausbeute an Antworten auf das «leichte» Problem ergab sich daraus, auf Fragen also, was im neuronalen Netz korrelierend geschieht, wenn ich denke, fühle, beabsichtige.[1]
Zugleich lieferte diese Forschung jedoch auch mehr Puzzleteile, die das harte Problem – das heisst: das Zusammenfügen zum Gesamtphänomen Bewusstsein – eher noch härter erscheinen lassen. Es gibt inzwischen einen regelrechten Markt an Theorien, die den «Sprung» vom Gehirn zum Bewusstsein verständlich zu machen versuchen, aber ein verbindlicher Konsens unter den Forschern ist nicht in Sicht. Das Bonmot kursiert, mit Bewusstseinstheorien verhalte es sich wie mit Zahnbürsten: jeder Forscher hat eine, und keiner teilt sie mit den anderen.
Der Modellorganismus C. elegans
Wie bereits das Manifest explizit machte, standen bisher höhere Säugetiere im Fokus der Bewusstseinsforschung: Tiere, die ausgiebig den Gesichtssinn zum Erkunden der Welt gebrauchen. Nun kennen freilich auch die sogenannten «niederen» Tierarten den Gesichtssinn, Vögel, Fische, Reptilien. Die Würfelqualle hat 24 Augen, die Jakobsmuschel bis zu 200. Das Studium des visuellen Systems von höheren Tieren entpuppt sich so gesehen als insgeheim anthropozentrisch. Unser Blick richtet sich auf Tiere «wie wir», weil wir uns von einem ganz bestimmten Paradigma, einer «Voreingenommenheit», leiten lassen: das Komplexe ist primär.
Erkenntnisfortschritt stellt sich jedoch oft ein, wenn man beim Einfachen beginnt. Der Fadenwurm C. elegans ist geradezu ein Emblem für diesen Forschungsstil. In den letzten 60 Jahren hat er sich als heuristischer Modellorganismus für Fragestellungen und Entdeckungen in der Zellentwicklung etabliert. In seinem Nervensystem zählt man gerade einmal 302 Neuronen. Und trotzdem löst er erstaunlich effizient adaptive Aufgaben wie Nahrungssuche oder Paarung. Er hat Chemorezeptoren, die ihn Gerüche und Geschmäcker wahrnehmen lassen; er lernt, hat ein Gedächtnis, bewegt sich auf Dinge zu, die er braucht, schützt sich vor Dingen – Salzen oder Säuren –, die potenziell schädlich sind. «Nur» physiologische Ereignisse, ohne Bewusstsein? Nebenbei bemerkt: Ein Grossteil dessen, was wir Menschen tun, erfolgt nicht bewusst.
Ein Paradigmenwechsel
Oder könnte es sein, dass sich im Verhalten von Fadenwürmern ältere, primitivere Formen von Bewusstsein manifestieren? Es handelt sich ja beim Bewusstsein nicht um ein Phänomen, das man einfach einschaltet. Nun muss man sich freilich vor einem Missverständnis hüten. Es geht nicht darum, dem Fadenwurm ein Bewusstsein wie höheren Lebenwesen zuzuschreiben, sondern um eine neue Fragestellung: Ist Bewusstsein lediglich Ergebnis von komplexen neurophysiologischen Vorgängen? Könnte es sein, dass wir uns mit einem Paradigma zu sehr auf eine Blickrichtung kaprizieren?
In der Wissenschaft ist es ja oft so, dass durch eine theoretische Umorientierung – durch einen Paradigmenwechsel – alte Fragen eine neue Fassung erhalten, und neue Antwortwege erschliessen. Einen solchen Paradigmenwechsel deutet zum Beispiel die «Cambridge Declaration on Consciousness» (2012) an: «Das Fehlen einer Grosshirnrinde scheint nicht auszuschliessen, dass ein Organismus Gefühlszustände erlebt. Übereinstimmende Evidenz zeigt, dass nichtmenschliche Tiere das neuroanatomische, neurochemische und neurophysiologische Substrat für bewusste Zustände aufweisen.»
Was bedeutet das genau? Gefühlszustände haben ein neuronales Substrat in den subkortikalen, unter der Grosshirnrinde liegenden Regionen. Sie kommen beim Menschen als auch bei vielen Tierarten vor. Wenn also Tiere auf die Reizung dieser Regionen reagieren, könnte man auf einen korrespondierenden Gefühlszustand schliessen. Wir tun das selbstverständlich etwa beim Hund. Er ist Subjekt seines Empfindens. Wenn er wimmert, sagen wir nicht: Aha, interessant, was im neuronalen Substrat des Hundes abläuft. Wir sagen: Er hat Schmerzen. Punkt.
Die neuronalen Netzwerke von Vögeln sind homologer zu den menschlichen als bisher angenommen. Warum sollte man also nicht von einem artspezifischen Empfinden und Bewusstsein bei Vögeln sprechen? Oder bei Fischen, Bienen, Quallen? Generell von einer artspezifischen mentalen Tierperspektive? Und warum sich nur auf höhere Arten beschränken? In seinem berühmten Aufsatz vor fünzig Jahren hat der Philosoph Thomas Nagel alle diese Fragen zu einer einzigen eingedickt: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?
Nichtmenschliches Leben als «mens extensa»
Darauf kann die Wissenschaft keine Antwort geben. Ihre Perspektive wird immer eine menschliche sein. Aber man sollte die Frage deswegen nicht einfach als «Panpsychismus» entsorgen. Vielmehr kann sie den impliziten Anthropozentrismus der Wissenschaft kritisch anleuchten. Die Ethologie stand lange unter dem cartesianischen Bann: Hier das Menschenreich der «denkenden Sachen» – der «res cogitans» –, und dort das Tierreich der «ausgedehnten Sachen» - der «res extensa».
Die moderne Bewusstseinsforschung hat diesen Bann gebrochen. Bewusstsein, so könnte man die neueren Studien zusammenfassen, ist kein Phänomen, das sich aus einer eindimensionalen «aufsteigenden» Entwicklungslinie von Primitivität zu Komplexität ergibt. Es manifestiert sich vielmehr in einer noch nicht erforschten Fülle von Verhaltensweisen, die man vorschnell als «mechanisch», «unbewusst» oder «automatisch» qualifizierte.
Aber nichtmenschliches Leben ist eine «mens extensa», vom Fadenwurm bis zum Bonobo: ein Wunderkabinett voller Wesen mit ihren spezifischen mentalen Lebensweisen. Darin muss der Mensch sich neu verorten. Und er tut gut daran, falls er den vitalen Haushalt des Planeten à jour (er)halten will.
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