Präsident Macron erscheint, angesichts einer nur relativen Mehrheit im Parlament, sichtlich angeschlagen. Jetzt schon ist klar: Die kommenden fünf Jahre werden kein Zuckerschlecken. Man kann sich kaum vorstellen, wie es die Premierministerin schaffen wird, Mehrheiten zu finden, damit Gesetze verabschiedet werden können.
Eine derartige Nachwahlzeit hat Frankreich noch nie erlebt. Seit dem 24. April, vor mehr als zwei Monaten, hat das Land den alten Präsidenten neu gewählt. Doch seitdem ist so gut wie nichts passiert. Frankreichs Exekutive scheint wie gelähmt, weil die Franzosen ihr bei den Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni keine absolute Mehrheit beschert haben.
Nun hat das Land seit diesem Montag, nach langem Zögern und Hinwarten, eine neue Regierung, nur sechs Wochen, nachdem die vorhergehende ernannt worden war. Drei Ministerinnen mussten gehen, weil sie bei den Parlamentswahlen angetreten waren und verloren hatten, ein anderer Minister wegen mutmasslichen sexuellen Übergriffen.
Kurzzeitig sah es so aus, als würde auch die neu ernannte Premierministerin, Élisabeth Borne, gleich wieder ausgewechselt. Letztlich bleibt sie aber.
Man erlebt ein Lavieren und Taktieren an der Spitze des Staates, was vor allem eines zum Ausdruck bringt: ein gehöriges Mass an Verunsicherung und eine schwer zu kaschierende Orientierungslosigkeit. Ja es herrscht ein wenig der Eindruck, Präsident und Regierung hätten Angst vor dem, was in den nächsten fünf Jahren da auf sie zukommen könnte.
Aufbruchstimmung nach Neuwahlen sieht wahrlich anders aus. Gleich zu Anfang, nach Bekanntgabe der Regierung, hat die neue Premierministerin klargemacht, dass sie nach ihrer Regierungserklärung an diesem Mittwoch nicht daran denkt, im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen, wozu sie nicht verpflichtet ist, was jedoch seit Jahren Usus war.
Der angeschlagene Präsident
Emmanuel Macron hat die Präsidentschaftswahlen vor 2½ Monaten noch einmal gewonnen, doch sein Sieg hat nicht die Spur von Enthusiasmus ausgelöst.
Unvergessen sein Auftritt in der Nacht des 24. April nach seinem Wahlsieg vor der Kulisse des Eiffelturms, wo sich gerade mal 3000 seiner Anhänger versammelt hatten. Seine ungewöhnlich kurze und verhaltene Ansprache, ohne jede Spur von Euphorie, war mit Floskeln überladen und enthielt Phrasen wie: «Wir werden ein neues Modell des Regierens präsentieren». Parole, Parole. Nach diesem Modell sucht man seitdem vergeblich.
Und nicht nur danach. Man sucht quasi Emmanuel Macron selbst, der abgetaucht ist und zu fliehen scheint und, je länger es dauert, den Eindruck vermittelt, er wisse im Grunde nicht so recht, wohin es gehen soll in seiner zweiten Amtsperiode.
Der hyperaktive Strahlemann, der 2007 Frankreichs Parteienlandschaft umgekrempelt und eine «Neue Welt» versprochen hatte, scheint von Zweifeln gepackt und ist de facto gehörig angeschlagen. Und dies aus mehreren Gründen.
Zunächst muss man ihm immer wieder seine Siegesrede im Innenhof des Louvre im Mai 2017 in Erinnerung rufen. Er werde seine ganze Kraft daran setzen, dass die Franzosen in Zukunft keinen Grund mehr hätten, für die extreme Rechte zu stimmen. Von wegen. Fünf Jahre später erzielte Marine Le Pen nicht 34% wie 2017, sondern 41% in der Stichwahl.
Eine Schlappe für den alten und neuen Präsidenten.
Macrons Fehler
In der Folge seines Wahlsiegs am 24. April 2022 und mit Blick auf die Parlamentswahlen, hat Macron dann auch noch eindeutig eine Reihe politisch-strategische Fehler begangen.
Mit seiner Attitude, als seien die Parlamentswahlen nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen nur noch eine Formalität, als ginge ihn das alles nichts an und als müsse er sich im Wahlkampf um eine Parlamentsmehrheit nicht mal mehr zeigen, hat sich der Hausherr im Élyséepalast ordentlich verrechnet.
Sein Abtauchen, das auch wieder mal als Arroganz gewertet werden konnte, war möglicherweise einer der Gründe, weswegen das Präsidentschaftslager nach den Parlamentswahlen vom 19.Juni nur eine relative Mehrheit von 250 Abgeordnetensitzen (die Mehrheit liegt bei 289) zustande gebracht hat.
Der zweite, gravierende Fehler Macrons bestand darin, zwischen den beiden Durchgängen der Parlamentswahlen nicht eindeutig gesagt zu haben: Verhindert die extreme Rechte von Marine Le Pen! Und dies, obwohl jedem im Land klar war, dass der Hausherr im Élysée bei der Präsidentschaftswahl in der entscheidenden zweiten Runde seine 59% nur erreicht hatte, weil genügend linke Wähler vor allem Le Pen verhindern wollten und nicht, weil sie für ihn, Macron, und sein vages Programm gestimmt hätten.
Der stark reduzierte Jupiter musste sich gefallen lassen, dass er selbst aus seinem Umkreis dafür zum Teil heftig kritisiert wurde.
Diese Wähler aus dem linken Spektrum haben es Macron dann bei den Parlamentswahlen heimgezahlt und sind in ihren Wahlkreisen zu Hause geblieben und haben nicht mehr vor allem gegen die Le-Pen-Kandidaten gestimmt.
Die Quittung: Le Pens «Rassemblement National» ist heute, trotz Mehrheitswahlrecht, mit 90 Abgeordneten die wichtigste Oppositionspartei in der französischen Nationalversammlung.
Das oft missbrauchte Wort «historisch» ist in diesem Fall wirklich angebracht. In 90 von 577 Wahlkreisen haben die Franzosen im zweiten Durchgang der Parlamentswahlen mehr als 50% der Stimmen einer Kandidatin oder einem Kandidaten der extremen Rechten gegeben.
Macrons dritter, gravierender Fehler: Er hat vor dem entscheidenden zweiten Durchgang der Parlamentswahlen die Kandidaten des Linksbündnisses NUPES und die der extremen Rechten auf dieselbe Stufe gestellt, indem er schlicht zur Wahl gegen die Extremen aufrief und betonte, der Republik dürfe keine einzige Stimme fehlen, als wären auch Sozialisten, Grüne, Kommunisten und Mélenchons Parteigänger von «La France Insoumise», im Bündnis NUPES vereint, allesamt Antirepublikaner. Und wieder hatte Macron hunderttausende Wähler, die ihm zum Sieg bei den Präsidentschaftswahlen verholfen hatten, düpiert.
Gegenwind aus eigenen Reihen
Und was machte Macron nach den Parlamentswahlen? Er suchte ewig lang einen Premierminister, bzw. eine Premierministerin.
Und wieder vergass er, dass er nur mit den Stimmen der Linkswähler in der Stichwahl seine 59% erreicht hatte und dachte an die konservative Catherine Vautrin, Präsidentin der Grossregion Reims und ehemalige Ministerin von Nicolas Sarkozy.
Da ging ein Aufschrei durch seine eigenen Reihen. Der Parlamentspräsident und der politisch gewichtige Chef der Zentrumspartei sagten ihm glasklar, er, der Herr des «sowohl Rechts als auch Links» könne, nach Édouard Philippe und Jean Castex, nicht zum dritten Mal einen Regierungschef der traditionellen, konservativen Rechten ernennen. Und Jupiter musste klein beigeben und letztlich Élisabeth Borne ernennen, die aus ihrer Vergangenheit zumindest einen zarten sozialistischen Anstrich mit sich bringt.
Sie ist eine höchst kompetente Spitzenbeamtin und Managerin, aber alles andere als eine eingefleischte Politikerin. Man hat Schwierigkeiten sich vorzustellen, wie sie im künftigen Tollhaus der Nationalversammlung mit 90 Abgeordneten des Rassemblement National (bislang 8) und den 75 Repräsentanten des Linksaussen, Jean-Luc Mélenchon, «La France Insoumise» (LFI) – bisher 17 – zurande kommen wird.
Und noch weniger kann man sich vorstellen, wie sie es schaffen will, überhaupt Mehrheiten zu finden, damit Gesetze verabschiedet werden können.
Von wegen Koalitionen
Gewiss, und viele Medien ausserhalb Frankreichs haben das betont: Macron hat rund 40% der Abgeordneten auf seiner Seite, im Grunde nicht so schlecht. In einem normalen parlamentarischen System wäre das sogar ein Erfolg und man würde nach der Wahl eben nach Koalitionen suchen.
Das Problem: Frankreich hat zwar ein Parlament, aber kein parlamentarisches System. Das Präsidialsystem hat dem Parlament in diesem Land seit sechs Jahrzehnten eine Statistenrolle zugewiesen. Die Folge davon: Kompromiss, Koalition oder gar Koalitionsvertrag sind in der französischen Politik absolute Fremdwörter und völlig unbekannte Realitäten. Für französische Politiker ist Koalition bis heute fast gleichbedeutend mit Kompromittierung.
Angesichts dessen war es durchaus nicht übertrieben, wenn nach dem Ergebnis der Parlamentswahlen hierzulande häufig von einer künftigen Blockade der französischen Politik die Rede war.
Denn Premierministerin Élisabeth Borne wird genötigt sein, von Gesetzentwurf zu Gesetzentwurf, von Fall zu Fall und in langwierigen Verhandlungen auf Mehrheitssuche zu gehen. Im Lager des Linksbündnisses NUPES dürfte sie bestenfalls ein paar übriggebliebene Sozialisten finden, mit denen sie sich gelegentlich arrangieren könnte, besser stehen die Chancen wohl bei den 50 verbliebenen Abgeordneten der einst grossen konservativen Partei «Les Républicains».
Aber wohlgemerkt: All dies hat mit Koalitionen nichts zu tun, vielmehr wird es in der französischen Nationalversammlung in den kommenden Jahren bei jeder Gesetzesvorlage ein zähes Ringen um eine Mehrheit geben. Kaum vorstellbar, dass der Präsident in diesem Kontext zum Beispiel im zweiten Anlauf seine Rentenreform und das Renteneintrittsalter von 65 durchs Parlament bringen könnte.
Ein Hauch von Hilflosigkeit
Immer häufiger war in den letzten Wochen davon die Rede, Emmanuel Macron wisse nicht mehr, wohin er steuern soll und sei absolut müde, ja kaum wiederzuerkennen.
Die Tageszeitung Le Monde hat am Wochenende gleich ein Dutzend nicht genannter Berater des Präsidenten oder Minister zitiert, die davon sprechen, dass der Präsident «benommen», «blockiert» oder «abwesend» wirke, so, als sei er in ein Luftloch gefallen. Der aufstrebende, zu allem entschlossene Macron von einst, ist zum grossen Zögerer geworden, der zum Beispiel einen ganzen Monat gebraucht hatte, um eine erste Regierung zu präsentieren.
Am deutlichsten bei der Kritik aus den eigenen Reihen wurde Marisol Touraine, einst Gesundheitsministerin unter Präsident Hollande, die sich inzwischen Macron zugewandt hatte und in den letzten Wochen ebenfalls als mögliche Premierministerin gehandelt worden war. «Das Hauptproblem besteht darin, dass man nicht klar sieht, welches Projekt Emmanuel Macron eigentlich hat und was er mit seinem zweiten Mandat anfangen will.»
Deutlicher kann man es kaum sagen.