„Il näsch“. So schrieb vor einiger Zeit ein junger Gymnasiast das Französisch-Sätzlein „il neige“ auf. Der Schüler wollte sich den Ausdruck einprägen; doch eine trendige Didaktik verbot das (Auf-)Schreiben. Die damalige Fremdsprachen-Methode setzte ganz auf das Audiovisuelle, auf Ton und Bild. Schriftliches blieb tabu. Das Einseitige mit dem Primat des Mündlichen benachteiligte bestimmte Lerntypen. Sie behalfen sich mit unbeholfenen Notizen. So gut es eben ging. Das Unterrichtskonzept ist in der Zwischenzeit zwar verschwunden, nicht aber der Degout vieler Schüler vor dem Französisch.
Pädagogische Einseitigkeiten
Das ist kein Einzelfall. Bekannt ist die Methode „Schreiben nach Gehör“, auch „Lesen durch Schreiben“ genannt. In die Schulen gebracht hat sie der Schweizer Reformpädagoge Jürgen Reichen. Sein Ziel: Das Buchstabenbüffeln beenden; die Kinder sollen sich die Schriftsprache selbst erarbeiten. [1] Mit Hilfe einer Buchstabentabelle schreiben sie so, wie sie die Wörter hören. Spontan und ohne fremde Hilfe. Auf diese Art verwandeln sie Sprache in Schrift. Fehler werden nicht korrigiert. Das demotiviere die Kinder, so Reichen. Auch explizites Üben untersagte er. Vielen blieb so der Weg zu einem korrekten Deutsch verwehrt. Nun verbieten verschiedene deutsche Bundesländer diese Methode. In der Schweiz hat der Kanton Aargau „Lesen durch Schreiben“ aus dem Lehrmittelkatalog gestrichen. Nidwalden stoppt diese Unterrichtsmethode ab der 2. Primarstufe.
Das pädagogische Pendel schwingt auf die eine, dann auf die andere Seite, sei es eher im methodischen Bereich, sei es mehr im pädagogischen Kontext. Ödes Pauken und freudloses Faktenlernen, wie es beispielsweise Hanno Buddenbrook unter dem preussischen Drillmeister „Direktor Doktor Wulicke“ erlebt hat [2], ist glücklicherweise verschwunden. Der Perpendikel schlug eher nach der entgegengesetzten Seite aus: Lernen soll primär „Spass“ machen.
Aktuelle Pendelausschläge
Das Pendel wird nie stillstehen; aktuelle Stichworte verdeutlichen es: „Vom Lehren zum Lernen“ wird postuliert oder „Beziehung statt Erziehung“ propagiert. Da ist „von der Instruktion zum selbstregulierten Arbeiten“ die Rede und „von Inhalten zu Kompetenzen“. Alle diese didaktischen Devisen und pädagogischen Postulate zielen auf ein Entweder-oder, auf einen Pendelschlag in diese oder in jene Richtung. Sie lassen nur das das Eine gelten, und dieses Eine wird hypemässig überhöht und verabsolutiert.
„Kompetenzorientiert statt wissensbasiert“, so hört man im Zusammenhang mit dem Lehrplan 21 vielfach und dazu den Hinweis: Wissen lasse sich googeln; entscheidend seien Kompetenzen. Dieser Slogan verkennt, dass es kein Können ohne grundlegendes Wissen im traditionellen Sinne geben kann; Wissen lässt sich nicht outsourcen. Das Schlagwort negiert, dass wirksame Lernprozesse aus einem Sowohl-als-auch entstehen, dass vermeintlich Gegensätzliches sich gegenseitig auch bedingt. Das erinnert an die prominenten Zwillinge Inhalt und Form. Zum guten Burgunder gehört auch ein Burgunderkelch.
Ein dialektisches Begriffspaar
Augenfällig wird das beispielsweise am Begriffspaar von Freiheit und Sicherheit. Die beiden Begriffe widersprechen sich – je nach Perspektive, aus der man argumentiert. Sie stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, und doch bedingen und ergänzen sie sich – ähnlich wie Yin und Yang. Jede Freiheit bedarf einer gewissen Sicherheit, eines Rahmens, innerhalb dessen sie sich bewegen kann. Und jede Sicherheit schafft auch Freiheit, weil sie einen Rahmen formt, innerhalb dessen man wieder frei sein kann.
Analog könnte man sagen: Junge Menschen sollen zur persönlichen Autonomie geführt werden, doch dazu brauchen sie auch Strukturen, die sie stützen, eine Art von Rahmen. Auf dem Weg zur Selbständigkeit benötigen viele Kinder ein stabiles Geländer; über gezielte Feedbacks vermittelt es ihnen Halt und Sicherheit. Impulsgeberin ist die vital präsente Lehrperson, verantwortlich ein anregendes und führendes Visavis.
Lernen als gezielt gesteuerter Prozess
Unverständlich bleibt darum, dass erfahrene Lehrpersonen den „Lerncoach“ und damit das „selbstregulierte Lernen“ ihrer Schüler ins alleinige Zentrum des Unterrichts rücken – und sich selber zum „Lernbegleiter“ degradieren. [3] Kaum je wird bei diesem aktuellen Pendelschlag die Frage gestellt, was beim „selbstregulierten Lernen“ denn reguliert werden solle? Reguliert sich das Lernen selbst? Und wie begleitet man selbstreguliertes Lernen?
Die Antwort der Bildungswissenschaft ist unmissverständlich: Reguliert werden primär Lernprozesse. Lernen ist immer Aufbauen und Konsolidieren. Doch das können die wenigsten Kinder und Jugendlichen aus sich selbst heraus vollziehen. Notwendig ist ein engagiertes Gegenüber. Beim Lernen geht es um Verstehen, um Behalten oder Einprägen und dann um das Abrufen und das Weiterverarbeiten wie das Anwenden in neuen Kontexten – sei es Wissen oder Können. Das Lernergebnis dieser wichtigen Teilprozesse hängt von ihrer ganz spezifischen Interaktion ab. [4] Es basiert auf Austausch und Korrektur. Einseitigkeiten führen nicht weiter; schulische Lernprozesse sind dialektische Vorgänge. Gesteuert werden sie von verantwortungsbewussten Lehrpersonen.
Einseitigkeiten sind unhaltbar
Guter und effizienter Unterricht erfordert darum eine angemessene Balance, einen dynamischen Mix aus verschiedenen Methoden und Formen. Mischwald sei besser als Monokultur, sagen die Fachleute. [5] Besonders erfolgreich wirkt eine aktive Lehrperson mit einem lehrerzentrierten, aber ausgesprochen schülerorientierten und schüleraktivierenden Unterrichtsstil. Der renommierte Bildungsforscher John Hattie bezeichnet ihn als „Direkte Instruktion“. [6] Sie hat nichts zu tun mit einem monotonen Frontalunterricht. Aus der Forschung wissen wir, dass Schüler, erst recht solche mit Lernschwierigkeiten und defizitären Sprachkompetenzen, unbedingt eine starke Struktur und klare Führung brauchen. Sie sind auf ein kognitives Gerüst und viele kurzschrittige Hilfen, Inputs und Feedbacks angewiesen. Das (unter-)stützt sie entscheidend.
Gutem Lernen hinderlich ist die Verabsolutierung einer bestimmten Unterrichtsmethode: Die Lehrerin nur als Lernbegleiterin oder Coach sehen, den Lehrer nur als Dozierenden, das lässt sich nicht legitimieren.
Die Farben der Schule sind die Zwischentöne
Als Verehrer der heiligen Dialectica sehe ich vieles in Spannungsfeldern. Ganz besonders im pädagogischen Alltag. Dazu gehört auch die Antinomie zwischen Instruktion und Konstruktion, zwischen dem lehrergelenkten Impuls-Geben und dem schülerzentrierten Selber-Tun. Es kommt mir vor, als müssten einige Pädagogen zuerst Hell und Dunkel erkennen und sich so bewusst werden, dass dies bloss zwei Pole sind. Dazwischen liegen unzählige Schattierungen. Vielleicht sind die Farben der Schule eben die Zwischentöne. Oder konkret formuliert: So viel Autonomie der Lernenden wie möglich, so viel Unterstützung und Hilfe durch die Lehrerinnen und Lehrer wie nötig.
[1] Jürgen Reichen (1988), Lesen durch Schreiben. Wie Kinder selbstgesteuert lesen lernen. Heft 1. 3. Aufl. Zürich: sabe Verlag.
[2] Thomas Mann, Hanno Buddenbrook, in: Wo waren wir stehengeblieben…? Schulgeschichten. Hrsg. Martin Gregor-Dellin (1969), Frankfurt am Main: Fischer Bücherei, S. 14.
[3] In: Bote der Urschweiz, 07.01.2021, S. 10.
[4] Gerhard Steiner (2020), Selbstreguliertes Lernen – Voraussetzungen zu seiner Genese, in: Damian Miller & Jürgen Oelkers (Hrsg.), „Selbstgesteuertes Lernen“: Interdisziplinäre Kritik eines suggestiven Konzepts. Mit Nachbemerkungen zum Corona-Lockdown. Basel/Weinheim: Beltz/Juventa, S. 131f.
[5] Hilbert Meyer (2004). Was ist guter Unterricht? 2., durchgesehene Auflage. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor, S. 9.
[6] John Hattie & Klaus Zierer (2017), Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 91f.