Gravitätisch und etwas altmodisch tritt das Buch "Engiadina und Val Müstair - Eine Galerie mit 81 Porträts" auf, im Leineneinband, im Grossformat und mit stattlichem Gewicht, eindrücklich auch die lange Liste öffentlicher und privater Hände, die dem Verlag Scheidegger & Spiess, der Fotografin Julieta Schildknecht und dem Autor Jachen Curdin Arquint fördernd unter die Arme griffen. Das Engagement galt der Idee, zum Bild, das die Tourismuswerbung vom romanischen Südbünden zeichnet, einen "Kontrapunkt" zu setzen. Der versprochene Blick hinter die Fassaden und die Ambition, vertraute, aber möglicherweise schiefe Projektionen ins Lot zu bringen, wecken Interesse und hohe Erwartungen.
Diffuser Ausgangspunkt
Zumal die anvisierte Region aus drei Gebieten besteht, die sich erheblich voneinander unterscheiden. Das mondäne Oberengadin, das volksnähere Unterengadin und das natureinfache Münstertal lassen sich touristisch nicht über einen Leisten schlagen. Die Wahrnehmung, die direkte und die medial vermittelte, ist je eine völlig andere. Und wie das Münstertal, das kaum Geld besitzt für Werbung, von eben dieser nachhaltig geprägt worden sein soll, bleibt rätselhaft.
Von Erklärungen finden sich im Buch keinerlei Spuren. Es zeigt sich von der Notwendigkeit entlastet, die konstatierte Realitätsfremde der romantisierenden oder sonst wie schwindelnden Werbung und mit ihr den Punkt zu beschreiben, der ins Verhältnis zum Kontrapunkt gesetzt werden soll. Das Buch hängt konzeptionell in der Luft.
Die verschwommene Ausgangslage begünstigte den Irrtum, mit Porträts von Akademikern und von Kunst- und Kulturschaffenden, die im Engadin und Münstertal verwurzelt sind, ein anderes, spannenderes, tiefenschärferes Bild der südöstlichen Rumantschia zu entwerfen.
Absurde Beweisführung
Das gelingt schlicht und ergreifend deshalb nicht, weil trotz aller und vielleicht gar dummdreister Werbekampagnen kein Mensch im Unterland glaubt, südlich des Vereinatunnels und des Ofenpasses beginne die geistige Einöde, unbewohnt von höher Gebildeten, kreativ Denkenden und Charakterköpfen. Nein: nirgendwo schreit solches Unwissen zum Himmel.
Die Fehleinschätzung der Autoren verleitete zu einer gänzlich überflüssigen Beweisführung und ist zugleich eine gewiss unbedachte, jedoch bedenkliche Brüskierung einer Region, deren Leistungen in der Kunst, Literatur, Architektur, Wissenschaft oder insbesondere pionierhaft im Tourismus seit je und bis heute anerkannt sind.
Die Porträtierten verdienen die Würdigung. Ohne jeden Zweifel. Aber ihre Instrumentalisierung mit dem Zweck, Engadin und Münstertal endlich mal ins Licht der Zivilisation und Kultur zu rücken, ist eine bemerkenswert ungebremste Manier, offene Türen einzurennen. Wer gegen fehlende Vorurteile kämpft, baut solche auf.
Ohne Ecken und Kanten
Das wäre - wenn auch mit Mühe - abzuhaken, besässen die Textporträts die Qualität der kritischen Neugier, des Nachfragens unter die Oberfläche und des Erhellens von Zusammenhängen. Schön formuliert sind sie, widerstanden aber dem Reiz und der Herausforderung, Menschen nicht nur mit ihren Stärken und Erfolgen, sondern auch mit ihren Schwächen und Enttäuschungen verstehen zu wollen. Wir lesen schmeichelnde und durch die Fülle ermüdende Freundlichkeiten.
Über diesen Mangel trösten die Fotografien der 81 Persönlichkeiten nicht hinweg. Die Aufnahmen fügen sich im Wechsel von Schnappschuss, Inszenierung und Selbstinszenierung zu einem stilbunten Panorama.
Um ein Buch, auch wenn es äusserlich auftrumpfen will, nicht ins Uferlose wachsen zu lassen, ist aus dem Kreis der Erwähnenswerten eine Auswahl zu treffen. Wie immer sie geschieht, wird sie angefochten. Gerade deshalb wäre es tunlich gewesen, hätten die Autoren nicht bloss ihr Recht auf Subjektivität unterstrichen, sondern ihre Kriterien offen gelegt. Samt Fingerzeig, warum die explizit betonte Regel, "nicht romanischsprachigen Zugewanderten aus Platzgründen" keine Berücksichtigung zu schenken, mit Ausnahmen bestätigt wird.
Julieta Schildknecht, Jachen Curdin Arquint, "Engiadina und Val Müstair - Eine Galerie mit 81 Porträts", Scheidegger & Spiess AG, Zürich, 2015, ISBN 978-3-85881-460-9