„Was hier vor sich geht, ist der Wille des Volkes“, triumphierte der Präsident. Über sechs Millionen der 6,4 Millionen Wahlberechtigten Ruandas – 98,3 Prozent – stimmten in einer Volksabstimmung für eine Verfassungsänderung, die es Paul Kagame ermöglicht, bis 2034 zu regieren. Das Parlament bestätigte die Verfassungsänderung, und auch das Verfassungsgericht äusserte keine Einwände.
Nach der alten Regelung hätte Kagame 2017 abtreten müssen. Nun darf er noch ein weiteres Mal für sieben Jahre antreten und anschliessend noch zwei Amtszeiten von fünf Jahren regieren. Damit ist er praktisch Präsident auf Lebenszeit und hat gute Aussichten, mit den vier dienstältesten Regierungschefs der Welt – Teodoro Obiang Nguema von Äquatorialguinea, José Eduardo dos Santos in Angola, Robert Mugabe von Zimbabwe und Paul Biya von Kamerun – zumindest gleichzuziehen.
Beschuldigungen von UN-Seite gegen Kagame
Kagame verdankt seinen Aufstieg der bizarren Weise, in der die Vereinigten Staaten und die Europäische Union versuchten, Wiedergutmachung zu leisten für ihre Versäumnisse während der Gemetzel 1994, in denen Hutu-Milizen in Ruanda annähernd 800’000 Tutsis abschlachteten. Mit materieller und finanzieller Hilfe standen sie dem neuen Regierungschef Ruandas, dem an US-Militärschulen ausgebildeten Paul Kagame, bei und lobten den Frieden und die Stabilität, die er seinem Land gebracht habe.
Doch während ihn der Westen als einen afrikanischen Konrad Adenauer beschrieb, der seinem Land Stabilität und rasches Wirtschaftswachstum gebracht habe, beschuldigte das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte die Streitkräfte Ruandas und Ugandas schwer. In seinem 2010 vorgestellten 561 Seiten starken Bericht heisst es, diese Streitkräfte hätten zwischen 1993 und 2003 bei ihren Interventionen in der Demokratischen Republik Kongo Verletzungen des humanitären Völkerrechts begangen, „die, falls sie von einem kompetenten Gericht bestätigt werden, als Verbrechen mit völkermörderischer Absicht gewertet werden können.“ Erbarmungslos hätten Truppen der Patriotischen Front Ruandas (RPF) die nach dem Genozid in Ruanda mit ihren Familien in den Kongo geflüchteten Hutu-Milizen verfolgt.
Unterdrückte Wahrheiten
Schon zuvor, 1994, hatten die Vereinigten Staaten eine Veröffentlichung des UN-Ermittlers Robert Gersony verhindert. Darin schrieb Gersony, dass die RPF zwischen 25’000 und 45’000 Menschen ermordet habe. Die RPF habe die Hutu-Milizen aus den UN-Flüchtlingslagern in Ruanda gebombt und sei im damaligen Zaire einmarschiert, um den langjährigen Diktator Mobutu zu vertreiben und die rund zwei Millionen Hutus abzuschlachten, die nach der Machtübernahme der Tutsis in Ruanda in den Nachbarstaat geflohen waren.
Zwar schätzte der UN-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen (UNHCR), dass höchstens sieben Prozent unter den Flüchtlingen Hutu-Milizionäre waren. „Man kann natürlich die Anwesenheit von Personen, die des Genozids schuldig sind, nicht ignorieren,“ räumte der chilenische Menschenrechtsanwalt Roberto Garreton, der die UNHCR-Untersuchung leitete, ein: „Dennoch ist es unzulässig, zu behaupten, dass eine Million Menschen, einschliesslich eine grosse Zahl von Kindern, kollektiv schuldig erklärt und zur Hinrichtung ohne Gerichtsverfahren verurteilt werden.“
Vergessener Krieg im Kongo
Dies hielt den amerikanischen Botschafter in Kongo, Daniel Howard Simpson, jedoch nicht davon ab, alle fliehenden Hutus öffentlich als „bad guys“ zu beschreiben, womit er Kagames Truppen einen Freibrief für Massaker erteilte. 300’000 Hutus seien alleine in diesen Massakern umgekommen, schätzte der Pariser Universitätsprofessor und Ostafrika-Experte Gérard Prunier in seinem „Africa’s World War: Congo, the Rwandan Genocide, and the Making of a Continental Catastrophe“.
Bis zu neun afrikanische Staaten und 21 bewaffnete kongolesische Gruppen waren zeitweilig an dem bis heute anhaltenden Krieg beteiligt, in dem es zunehmend nur noch um die Plünderung der immensen Bodenschätze des Kongo ging. Von den westlichen Medien nahezu unbeachtet starben dabei 5,4 Millionen Menschen, wurden eine Million in die Flucht getrieben und Zehntausende Frauen vergewaltigt.
Kagames Maschinerie der Ausplünderung
Kagames Regime sei nicht mehr als „eine sehr gut geführte soziale und wirtschaftliche Diktatur“ [1], welche 85 Prozent der Bevölkerung, die Hutus, von den Entwicklungen und Entscheidungsprozessen ausschliesse, kritisierte Prunier. Sein Hauptmotiv hinter den Bemühungen, den Osten Kongos zu kontrollieren oder zu destabilisieren, ist der Wunsch, „den fortgesetzten Zugang zu Kongos wirtschaftlichem Reichtum“ zu sichern, bestätigt auch René Lemarchand, emeritierter Professor an der University of Florida, der über Jahrzehnte Feldforschung in der Region betrieben hat, in seinem Buch „The Dynamics of Violence in Central Africa“.
Ein Bericht über die Wirtschaft Ruandas vom Südafrikanischen Institut für Sicherheitsstudien erwähnte, dass sich Ruandas Coltan-Produktion alleine in den Jahren 1999 bis 2001 offiziell von 147 auf 1300 Tonnen erhöht hatte. „Ein Teil der Produktionssteigerung wurde mit der Öffnung neuer Minen in Ruanda erreicht“, räumte der Bericht ein. „Der Anstieg ist jedoch vorrangig dem betrügerischen Re-Export von Coltan kongolesischen Ursprungs zu schulden.“ Tom Burgis, der langjährige Korrespondent der „Financial Times“ in Johannesburg und Lagos, schätzt in seinem 2015 erschienen Buch „The Looting Machine“ über die Plünderung Afrikas durch korrupte Regierungen, Warlords und ausländische Unternehmen, dass „die Hälfte des Coltans, das Ruanda jahrelang als sein eigenes exportierte, tatsächlich aus dem Kongo kam.“
Regionale Machtansprüche Ruandas
Schon 2008 war eine Untersuchung der Vereinten Nationen zu dem Schluss gekommen, dass es den „Führern Ruandas gelungen ist, die internationale Gemeinschaft zu überzeugen, dass ihre militärische Präsenz im Osten der Demokratischen Republik Kongos (DR Kongo) das Land vor feindlichen Gruppen innerhalb der DR Kongo schützt, die, wie sie behaupten, eine Invasion gegen sie vorbereiten.“
Die Untersuchungskommission habe aber „überwältigende Beweise für das Gegenteil“ und sei „beispielsweise im Besitz eines Briefes von Jean-Pierre Ondekane, dem Ersten Vizepräsidenten und Chef des Militärischen Oberkommandos des Kongolesischen Zusammenschlusses für Demokratie (PCD, eine kongolesische Rebellengruppe, hauptsächlich aus Tutsis bestehend), in dem er alle Armee-Einheiten anweist, gute Beziehungen zu unseren Interahamwe (jene, die zusammen kämpfen, eine Hutu-Kampforganisation) und Mayi-Mayi-Brüdern (regionale Milizen in Süd- und Nord-Kivu) zu unterhalten und ihnen wenn nötig zu erlauben, den Boden für ihr Überleben auszubeuten.“
Zudem hätten „prominente Mitglieder einer kongolesischen Hutu-Gruppe, der Benemugabohumwe, begonnen, Hutus in der DR Kongo zu ermutigen, für die Sache Ruandas zu arbeiten.“ Der Gouverneur der Provinz Nord-Kivu, ebenfalls ein Hutu, habe „eine NGO gegründet, Tous pour la paix et la démocratie, die versucht, alle Hutus für eine Zusammenarbeit mit Ruanda zu gewinnen.“ Die kongolesischen Hutus sollten sich den „Bemühungen Ruandas anschliessen, den Osten der DR Kongo zu kontrollieren, um damit die Treue zu Ruanda zum Ausdruck zu bringen.“
Privilegien der einstigen Opfer
Aus US-Präsident Bill Clintons anhaltender Unterstützung für Kagame schloss René Lemarchand, dass die USA „offensichtlich die Aufteilung Kongos begrüssten“. Washington, Brüssel und Strassburg rechnen dem Despoten in Kigali hoch an, dass der Nachschub an wichtigen Mineralien für ihre Industrien nicht versiegt und dass er 1994 dem Massenmord an den Tutsis in Ruanda ein Ende setzte.
Es ist die klassische Position des Opfers. Wie im Falle Israels schaut auch hier die sogenannte internationale Gemeinschaft über Verletzungen der Menschenrechte und Verstösse gegen das internationale Recht, die das frühere Opfer begeht, gerne hinweg. So nehmen weder die USA noch die Europäische Union Anstoss daran, dass Ruandas Ruhe und wirtschaftlicher Fortschritt auf Kosten der Mehrheit im Land und des Nachbarstaates Kongo erreicht wurde.
[1] Im Gegensatz zu den häufigen Berichten über einen ethnischen Konflikt zwischen Tutsis und Hutus insistierte der langjährige Afrika-Korrespondent der „Polska Agencja Prasowa“, Ryszard Kapuściński, Ruanda sei eines der wenigen Länder Afrikas, in dem nur ein Volk lebe, die Banyarwanda, die allerdings in drei Kasten unterteilt seien: die Tutsi-Viehzüchter (14%), die Hutu-Bauern (85%) und die Twa, eine Art Leibeigene (1%). Darum müsse man von einem Klassenkonflikt sprechen.