Mit den Strophen „Was gesagt werden muss“ hat Günter Grass einen schweren Stein in das Wasser kaum kontrollierbarer Emotionen geworfen. Gestern Libyen mit fünfzigtausend Toten, heute Syrien mit mehr als neuntausend Menschenleben, und morgen? Ehud Barak hat vor kurzem die Zahl der israelischen Opfer iranischer Raketen mit 500 angegeben, bevor er korrigiert wurde: Es seien nicht mehr als 300 Tote zu befürchten. In Jerusalem wird an der Drohung festgehalten, spätestens 2013 zu einem Militärschlag auszuholen, wenn bis dahin die Verhandlungen mit Teheran und die Sanktionen nicht greifen sollten.
Wie zu erwarten, stürzen sich bestellte und selbsternannte Meinungsmacher auf das zottelige Poem. Grass ist nicht einmal der Vorwurf erspart worden, er reihe sich in die europäische Tradition jener ein, die den Juden vor Pessach einen Ritualmord anhängen wollten.
Auch dass er mit seiner Kritik an der israelischen Politik ein weiteres Mal seine lang beschwiegene Vergangenheit bewältigen wolle, gehört zu den Gemeinplätzen der Polemik. Und dass Grass ausgerechnet von Avigdor Lieberman angegriffen wird, entbehrt nicht der Pikanterie. Man gehe in Israel „Yvets“ Image nach.
Grass’ erregter Zeilenerguss hat der Sache des Friedens in der Region keinen Dienst erwiesen; sein emphatischer Eingriff kollidiert allzu sehr mit den realen Bedrohungen. So scheint ihm entgangen zu sein, dass Thomas de Maizière und Hillary Clinton mit deutlichen Worten vor einem Waffengang Israels gewarnt haben, auch weil die Folgen die gesamte Region geostrategisch treffen würden.
Im Juni 2011 forderte ein Sprecher Netanjahus den früheren Geheimdienstchef Meir Dagan auf, seinen Diplomatenpass zurückzugeben, nachdem er „ohne Verantwortung für die Nation“ die Regierung in Sachen Iran kritisiert hatte. Klar ist, dass jene Teile der iranischen Bevölkerung, die der Khameneis und Achmadinedjads längst überdrüssig geworden sind, politisch endgültig erledigt wären, würden sie sich in der Stunde der nationalen Gefahr einem Schulterschluss mit ihnen verweigern. Der achtjährige Krieg mit Saddam Husseins Irak bleibt ein Menetekel für die Geringschätzung politischer Rationalität.
Zum anderen ist Grass entgangen, dass schon das Spiel mit einer atomaren Konfrontation die Nuklearisierung des gesamten arabischen Raums in Gang gesetzt hat. Komplementär zur allseits befürchteten Islamisierung der arabischen Staaten würde die Drohung mit dem atomaren Knüppel treten. Die jüngste Gipfelkonferenz der Arabischen Liga in Bagdad bot hinreichend Beispiele für die Rivalitäten und Spannungen untereinander.
Die schweigende Mehrheit für Grass?
Alle politischen Forderungen nach einem Stopp der Waffenlieferungen aus den USA, aus Russland, aus China, Nordkorea und Europa sowie der Ruf nach regionaler Abrüstung hätten sich erledigt. Den größten Schaden hat Grass jedoch jenen Politikern und kritischen Beobachtern zugefügt, die sich höchst gefährlichen Strömungen entgegenzustellen suchen: Ungeachtet der Konkretion durch eine Meinungsumfrage ist die Behauptung nicht aus der Luft gegriffen, dass in der Bundesrepublik die „schweigende Mehrheit“ Grass weitgehend zustimmen dürfte. Haben nicht vor einigen Jahren siebzig Prozent der Europäer – oder waren es mehr? – Israel bescheinigt, dass es den Weltfrieden gefährde? Geistert seit der Libanon-Invasion israelischer Truppen unter Ariel Sharons Befehl im Juni 1982 nicht die Rede vom „palästinensischen Holocaust“ durch Tragik oder Skandal: Die europäischen Regierungen haben das offene Unverständnis oder den schwelenden Verdruss nicht einhegen können. Während sie kein Brüsseler Gremium und keine internationale Konferenz auslassen, um neuerdings in Syrien und im Iran die Achtung der Menschenrechte einzuklagen, haben diese trotz aller Evidenz aus der Feder der EU-Missionschefs vor Ort für die Westbank und für den annektierten arabischen Teil Jerusalems wenig Gültigkeit.
Wer Wutanfälle von Nobelpreisträgern wie José Samarago, Desmond Tutu und Günter Grass verhindern will, sollte vorerst die eigenen Anteilen des Schweigens und Versagens kritisch befragen.
Grass’ verschwiemelte Zügellosigkeit ist mehr als der mit letzter Tinte geschriebene Ausdruck einer egozentrischen Abrechnung mit sich, seiner Generation der deutschen Täter und Mitläufer sowie der Welt des Unfriedens, für die Israel in Haftung genommen werden soll. Vielmehr ist sie eine Warnung vor der Gefährdung der Demokratie: Die Regierung hat die öffentliche Meinung verloren, das Volk übt sich in der Verachtung der Politik. Der Sprecher Angela Merkels hat kein weiteres Öl ins Feuer gegossen, seine Chefin dürfte wissen, warum.