Ein bisschen schon. Aber unerwarteterweise wegen der albanischen Polizei. Mit Maschinenpistolen und Pistolen stoppte sie im Feierabendverkehr auf der Autobahn ins Zentrum von Tirana einen schwarzen Mercedes, zerrte Fahrer und Beifahrer heraus, durchsuchte sie und legte beide in Handschellen.
Das lief innert Sekundenschnelle ab. Der übrige Verkehr wurde weder angehalten noch umgeleitet, sondern zwangsläufig nur verlangsamt, weil Polizeifahrzeuge den Weg versperrten und mit ihnen Uniformierte in kugelsicheren Westen, die mit den Waffen im Anschlag quer über die drei Spuren zur linksseitigen Leitplanke und dort zum Aktionsobjekt stürmten. Filmreif war es und im vorbeirollenden Erleben spektakuläres Strassentheater. Obwohl es die nachträgliche Schilderung dramatisieren würde: Nein, geschossen wurde nicht auch noch.**
Selbstverständliche Hilfsbereitschaft
Im Übrigen fühlten sich meine Frau und ich vom nördlichen bis ins südliche Albanien in Städten und Dörfern, auf Plätzen und Märkten völlig sicher. Keine Hand griff diebisch in unsere Taschen. Die Geldwechsler geschäfteten ehrlich. Die im Taxi vergessene teure Kamera konnten wir problemlos wieder beschaffen. Wenn wir einen Rat benötigten, erhielten wir ihn englisch, deutsch, französisch, italienienisch oder in der Zeichensprache rasch und liebenswürdig. Hilfsbereitschaft gehörte zu den Selbstverständlichkeiten.
Drei Beispiele aus einer langen Reihe: Vor einem Hotel übersah ich trottelig einen Treppenabsatz und blieb mit dem Auto stecken. Nullkommaplötzlich rannten fünf, sechs junge Albaner aus dem Hotel und einem gegenüberliegenden Restaurant herbei, lachten mir ein „No problem“ zu und hoben den Wagen mit vereinten Kräften auf den Fahrweg zurück. Oder: In einer grösseren Stadt suchte ich einen Tabakladen und erkundigte mich bei einem Einheimischen. Weil er keine Antwort wusste, was er mehrfach bedauerte, zückte er sein Handy und rief einen Freund an. Und: Die Besitzerin eines ausgebuchten Hotels bot uns spätabends ein Zimmer in ihrem Privathaus an und lotste uns durch die verwinkelten Gassen.
Die Beispiele stehen für unsere Erfahrung, dass all die unvermeidlichen Sörgelchen und Probleme, die sich während der Reise ergaben, sofort und mit agiler Tüchtigkeit behoben wurden. „Geht nicht“ oder „Haben wir nicht“ hörten wir nie.
Traumhaftes Gebirge
Wir hatten, gut vorbereitet, ein Routenprogramm im Kopf. Dennoch waren wir vor Ort auf Tipps neugierig. Obwohl uns niemand die Küstenebene empfahl, reisten wir dorthin. Die Städte sind pulsierend, lärmig und ohne Anmut, die uralten kulturgeschichtlichen Zeugen verwahrlost. Heruntergekommene Altbauten, klotzige Neubauten und triste Bauruinen prägen das Bild, auch in der Umgebung. Zahllose Hotels und Appartmenthäuser stehen leer. Blindwütig dauert das landschaftszerstörende Bauen an. Die weiten, einsamen Sandstränden verfügen nur ausnahmsweise über eine akzeptable Infrastruktur.
Wovon die Einheimischen schwärmten, empfanden auch wir als beglückend atemberaubend: das Karstgebirge mit seinen dicht hintereinander aufsteigenden, von Dunkelgrün zu Sanftblau wechselnden Höhenzügen, geheimnisvollen Schluchten und schweigenden Dörfern. Einzigartig und schön sind die alten Stadtkerne in Berati und Gjirokastër sowie die archäologischen Ausgrabungen in Butrint.
Simple Verkehrsregeln
Die Fahrten von Ort zu Ort, auch auf Hauptstrassen, setzten wegen der Schlaglöcher und kilometerlangen Schotterabschnitten zu. Auf Nebenverbindungen taugt nur ein robuster Wagen mit Allradantrieb.
Nach zwei Tagen begriffen wir die fünf simplen Grundprinzipien der albanischen Fahrkunst: dem Schnelleren gebührt der Vortritt, fürs Überholen genügt die Sicht auf zehn Meter, nie hupen, stets ausweichen, jedem Auto ist ein Schutzengel zugeteilt. Dort, wo er sich einen Sekundenschlaf gönnte, steht am Strassenrand ein pompöser, blumengeschmückter Grabstein. Vor einer Kuppe zählten wir dicht an dicht deren zwölf. Manche schnurgerade oder engkurvige Strecke könnte ein Friedhof sein.
Frauen und Männer
Kopftuchträgerinnen und Frauen am Steuer sahen wir wenige. Die jungen, schönen und selbstbewussten Frauen tragen enge Jeans oder knappe Shorts, High Heels oder kecke Stiefel, am Strand attraktive Bikinis. In den Restaurants und Cafés ist die Bedienung ausschliesslich männlich. Fiel einem Kellner ein Glas zu Boden und zerbrach, eilte eine Frau mit Besen, Lappen und Schaufel herbei. Bestellten wir je ein Frühstücksei, erhielt meine Frau eines, ich zwei. Mir wurde der Wein zuerst eingeschenkt.
Blick an die Fassade
Was wir über Albanien lasen und hörten, ist nach der knapp dreiwöchigen Reise differenzierter und heller geworden. Wir empfinden für Land und Leute Sympathie. Aber mehr als das Äussere erfassten wir nicht.
Wir sahen – einerseits – ärmlich angezogene und häufig bettelnde Menschen, Strassenhändler, die Zigaretten, billige Artikel des täglichen Bedarfs, gebratene Maiskolben oder gebrauchte Kleider zum Verkauf anboten. Uns fielen die Scharen junger Frauen und Männer auf, die tagsüber flanierten, auf Bänken sassen oder in den Cafés. Wir nahmen die alle paar hundert Meter improvisierten, den kleinen Einkünften dienenden Autowaschanlagen wahr, marode Strassen und mit Unkraut überwachsene Bahngeleise, das bizarre Kabelgewirr von Haus zu Haus, den gelegentlichen Stromausfall, lottrige Busse und gespenstische stillgelegten Stahlwerke. Werbeplakate? Bloss da und dort.
Anderseits begegneten wir fröhlichen Kindern und scherzenden Alten. Wir bewunderten die modisch Herausgeputzten, mussten vor Sportwagen und eleganten Limousinen zurückspringen, betraten ausnahmslos blitzsaubere Gasthäuser, assen aus dem einfachen Angebot vorzüglich zubereitete Speisen, freuten uns über Albaner, die uns leicht als Ausländer erkannten, ansprachen und begeistert von ihren Jahren in der Schweiz, Deutschland oder Frankreich erzählten. In den Verkaufsläden fanden wir alles, was wir brauchten – und wesentlich mehr. Zu Preisen von geradezu beschämender Tiefe.
Unauflösbare Widersprüche
Die Erklärung der Widersprüche gelang uns nicht. Die Armut bedrückte, der protzige Reichtum ärgerte uns. Der schwierige, vor einer Generation begonnene Wandel vom diktatorisch unterdrückten und isolierten Land zur Demokratie und offenen Marktwirtschaft verläuft weder perfekt noch gerecht.