Ein Jahr nach dem Amtsantritt des pakistanischen Ministerpräsidenten Nawaz Sharif fordern jugendliche Aktivisten der zweitgrössten Partei des Landes den Rücktritt des Regierungschefs und Neuwahlen.
Aufgerufen zur Protestaktion hat Imran Khan, der einst berühmte Cricket-Star. Er führt heute die PTI an, die Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit. Imran Khan ist der Ansicht, die letzten Wahlen vom Mai 2013 seien gefälscht worden. Er wirft dem Ministerpräsidenten vor, er habe die Fälschungsvorwürfe nicht untersuchen lassen, wie er anfänglich versprochen hatte. Zudem sei kein Wahlversprechen von Nawaz Sharif in Erfüllung gegangen.
Pakistan leide nach wie vor unter einer schrumpfenden Wirtschaft, zunehmender Unsicherheit und zusammenbrechenden Infrastrukturen. Schwer ist Gewicht fallen vor allem die zahlreichen Unterbrüche der Elektrizitätsversorgung. Sie können Stunden dauern und Fabriken still legen.
Die relativ neue Partei Imran Khans hat vor allem unter der Jugend Anklang gefunden. Man spricht von ihr als von einer Partei der neuen Generation. In Pakistan besteht die Hälfte der Bevölkerung aus Kindern und Jugendlichen.
Unterwegs in die Hauptstadt
Imran Khan hat gegen 15‘000 Teilnehmer mobilisiert. Sie sind zurzeit in einer riesigen Autokolonne unterwegs auf der 350 km langen Strasse zwischen Lahore und der Hauptstadt Islamabad. Gestartet wurde am 14. August, dem pakistanischen Nationalfeiertag.
Die Verfassung garantiert ein Recht auf Demonstrationen. Sie hat den Protestmarsch nicht untersagt. Solange er friedlich verläuft, will sie nicht eingreifen. Doch die Polizei hat zahlreiche Strassensperren errichtet, um den motorisierten Protestzug zu verlangsamen. So wurde der Durchgang verengt, indem Container quer über die Strasse gestellt wurden. Imran Khan selbst reist mit seinen Mitarbeitern in einem grossräumigen Transportwagen, von dessen Vorderdach aus er über Lautsprecher Reden hält.
Die Anhänger eines Sufi-Gottesgelehrten
Es gibt noch einen zweiten Protestmarsch. Der Gottesgelehrte Dr. Tahirul Qadri hat ihn organisiert. Auch er fordert den Rücktritt des Ministerpräsidenten und seiner Regierung. Er beschuldigt sie der Korruption.
Qadri lebt in Kanada, besucht aber Pakistan jedes Jahr. Er führt eine eigene pakistanische Partei an, die PAT (Pakistanische Volksbewegung). Zwar hat sie keine landesweite Bedeutung, doch Quadri kann auf Zehntausende Gefolgsleute zählen. Das sind meist junge Leute, die aus seinen eigenen Schulen und Wohltätigkeitsorganisationen hervorgegangen sind. Sie sehen ihn als ihren geistlichen Vater an und sind ihm offenbar bedingungslos hörig. Theologisch gesehen ist Qadri eher ein Sufi als ein Islamist. Seine Karawane ist auch in Lahore gestartet und hat Islamabad bereits erreicht.
Zwischenfall in Gujranwala
Während des Protestzuges von Imran Khan kam es Donnerstag in der Dreimillionen-Stadt Gujranwala zu einem Zwischenfall. Seine Karawane wurde mit Steinen beworfen, als sie sich in der Nähe eines Parteilokals der Partei des Regierungschefs befand. Imran Khan erklärte auch, sein eigener Wagen sei beschossen worden. Unter den Demonstranten brach Panik aus. Es gab Verletzte, doch Imran Khan setzt die Protestaktion fort.
In Islamabad haben die Behörden Imran Khan einen Platz ausserhalb des Zentrums zugewiesen. Dort soll nach Ankunft des Protestzuges die erwartete Grossdemonstration stattfinden. Container auf den Strassen verhindern den Zugang vom Platz zur Innenstadt. Zehntausende Polizisten sind seit Tagen mobilisiert. In der grossen Hitze, die zurzeit herrscht, sind sie zu Fuss unterwegs. Ihre Übermüdung und Überreizung lässt befürchten, dass manche von ihnen die gebotene Zurückhaltung verlieren könnten, wenn es zu Zusammenstössen kommt.
Steht die Armee im Hintergrund?
Es gibt Gerüchte, die besagen, Imran Khan handle in Abstimmung mit der Armee. Solche Gerüchte kommen leicht auf in einem Land, das viele Armeeputsche hinter sich ha. Jedermann weiss, dass der Geheimdienst der Armee eine wichtige, manchmal ausschlaggebende, politische Rolle spielt.
General Pervez Musharraf, der frühere Staatspräsident, steht zurzeit vor Gericht und ist des Hochverrats angeklagt. Er hatte 1999 Nawaz Sharif, der auch damals Ministerpräsident war, mit einem Putsch abgesetzt. Nach den umlaufenden Gerüchten, könnte es sein, dass gegenwärtig die Geheimdienste der Armee Imran Khan ermutigen, den Rücktritt des Ministerpräsidenten zu fordern. So wollen sie die Verurteilung von Pervez Musharraf verhindern. Es wäre das erste Mal, dass ein pakistanischer Putschgeneral nachträglich von einem Gericht zur Rechenschaft gezogen würde.
Dies alles sind nur Vermutungen und Gerüchte. Sie tragen jedoch dazu bei, die Hauptstadt zu beunruhigen und die Herausforderung durch den «Freiheitsmarsch» der PTI ernst zu nehmen.
Die Armee kämpft in Nordwaziristan
Dass die Armee im gegenwärtigen Zeitpunkt selbst die Macht übernehmen möchte, ist unwahrscheinlich. Die Zeiten unmittelbar vor dem amerikanischen Abzug aus Afghanistan sind ungewiss. Die Armee ist noch immer sehr beschäftigt mit dem Feldzug an der afghanischen Grenze in Nordwaziristan. Dort hatten bisher die Pakistanischen Taliban ihr Hauptrückzugsgebiet. Von hier aus organisierten sie ihre Terroraktionen in ganz Pakistan bis hinab in den Punjab und bis Karachi. Gleichzeitig gewährten sie auch gewissen Islamistengruppen, die in Afghanistan kämpfen, Gastfreundschaft und Asyl.
Seit vielen Jahren hatten die Amerikaner die pakistanische Armee aufgefordert, in Nordwaziristan für Ordnung zu sorgen. Ohne Erfolg. Die Armee erklärte, es sei ihre Sache zu entscheiden, ob und wann sie eine Grossoffensive gegen die Taliban unternehme. Aus diesem Grund begannen die Amerikaner in Nordpakistan Drohnen einzusetzen, was die Beziehungen zwischen den USA und Pakistan schwer belastet.
Angriff auf den Flughafen in Karachi
Die pakistanischen Militärs haben sich schliesslich im vergangenen Juni doch entschlossen einzugreifen, nachdem der Flughafen von Karachi von usbekischen Kämpfern angegriffen worden war. Die islamistischen Usbeken hatten ebenfalls in Nordwaziristan Unterschlupf gefunden. Nach dem Überfall auf den Flughafen brach Nawaz Sharif die Versuche ab, mit den Taliban zu verhandeln. Damit wurde ein weiteres Wahlversprechen nicht erfüllt. Sharif hatte im Wahlkampf Verhandlungen mit den Taliban in Aussicht gestellt.
Jetzt, nach dem Überfall, beschloss die Armee einzuschreiten. Sie begann eine Grossoffensive im schwer zugänglichen Berggebiet. Dieses wurde bisher von lokalen Stämmen beherrscht - Stämme, wie die Mahsud, die ihrerseits mit den Taliban, den pakistanischen und den afghanischen, zusammenarbeiteten.
Aufforderung zum Verlassen der Dörfer
Wie schon 2009, als die Armee im Swat-Tal eine Grossaktion startete, wurde auch jetzt die Bevölkerung aufgefordert, ihre Dörfer zu verlassen. Gegen 400‘000 Stammesleute aus Nordwaziristan verliessen darauf ihre Heimatorte, um sich vor Kämpfen zu schützen. An Strassensperren wurden sie von der Armee kontrolliert. So wollte man verhindern, dass mit den Geflüchteten auch Kämpfer ins Innere Pakistans einsickerten.
Die Vertriebenen fanden Zuflucht in den tiefer liegenden Tälern und Städten, ohne weitere Hilfe des Staates zu erhalten. Die Armee besetzte Miranschah, die nun weitgehend leere Hauptstadt von Nordwaziristan. Von dort aus unternahm sie Razzien in den Bergtälern. Kürzlich gab sie bekannt, die Soldaten hätten 500 "Terroristen" getötet. Was genau in der besetzten und umkämpften Region vorgeht, weiss niemand ausser den leitenden Offizieren.
Das Problem der porösen Grenze nach Afghanistan
Die Grenze nach Afghanistan blieb bei alledem offen, und die Kämpfer scheinen zu grossen Teilen über die Grenze nach Afghanistan ausgewichen zu sein. Die Armee will versuchen, die Grenze soweit abzuriegeln, dass diese Kämpfer nach dem Abzug der Hauptmasse der Truppen nicht wieder auf pakistanisches Gebiet zurückkehren können. Dies dürfte der Hauptgrund sein, weshalb sich die Offensive in Nordwaziristan hinzieht und noch immer nicht zu Ende ist.
Die afghanischen Armeeoffiziere und Sicherheitsleute sind natürlich wenig begeistert darüber, dass die pakistanische Militäraktion die Kämpfer aus Pakistan auf ihre Seite der Grenze treibt. Die amerikanischen Offiziere erklären, sie hätten früher – bevor sie begannen, ihre militärische Präsenz zu verdünnen – über genügend Armeeangehörige verfügt, um die Taliban am Übertritt nach Afghanistan zu hindern. Doch gegenwärtig sei dies nicht mehr möglich. Die Sicherheitszuständigkeit ist an die afghanische Armee übergeben worden, und die amerikanischen Truppen bereiten ihren Abzug vor.
Was beabsichtigt die Armee?
Auch bei dieser Frage spriessen Vermutungen und Gerüchte. In Pakistan wird darüber spekuliert, warum die Armee erst in diesem späten Zeitpunkt eingreift, während sie sich zuvor jahrelang weigerte, den amerikanischen Bitten Folge zu leisten, genau dies zu tun.
Es gibt zwei Antworten auf solche Fragen: Entweder hat der Überfall auf den Flughafen von Karachi das Fass zum Überlaufen gebracht. Oder, zynischer und möglicherweise zutreffender: die pakistanische Armee verfolgt noch immer ihre alte Politik. Die ging seit vielen Jahren - und möglicherweise noch immer - darauf aus, die islamistischen Kämpfer zu schonen, um sie im gegebenen Zeitpunkt als Instrumente ihrer Politik verwenden zu können.