Die «New York Times» gilt weltweit als Goldstandard im Journalismus. Doch nach externer und interner Kritik hat das glänzende Image jüngst einige unschöne Kratzer abgekommen. Wie nachhaltig ist der Schaden?
«Journalisten dienen der Öffentlichkeit nicht, wenn sie versuchen, die Urteile der Geschichte vorwegzunehmen oder die Gesellschaft dorthin zu lenken», sagte der 44-jährige A. G. Sulzberger, Verleger der «New York Times» in vierter Generation, Anfang März in der Reuters Memorial Lecture an der Universität Oxford: «Unsere Aufgabe als Journalisten ist fest in der Gegenwart verankert: die Gesellschaft mit jener Information und jenem Kontext zu versorgen, den sie benötigt, um sich überlegt mit tagesaktuellen Themen zu beschäftigen. Der Glaube, dass eine informierte Öffentlichkeit bessere Entscheide trifft, ist vielleicht die hoffnungsvollste Annahme einer unabhängigen Presse.»
Sulzbergers Rede war insofern mit Spannung erwartet worden, als die «New York Times» kurz zuvor mit externer und interner Kritik konfrontiert worden war, über das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und Israels Vergeltungskrieg in Gaza mitunter fahrlässig zu berichten – kein banaler Vorwurf angesichts der Tatsache, dass sowohl die Besitzerfamilie der «Times» als auch ihr Chefredaktor Joe Kahn jüdisch sind.
Nullsummen-Narrative
«Es gibt keine Story, die umstrittener und in gegensätzlichere Nullsummen-Narrative verstrickt ist (als der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern)», sagte der Verleger: «Zwei Völker, die Anspruch auf dasselbe Land erheben, beide mit Argumenten, die nicht nur auf der Geschichte, sondern auch auf der Religion gründen. Zwei Völker, deren Vergangenheit und Gegenwart ihnen eine Vielzahl von Gründen bietet, sich existenziell bedroht zu fühlen.»
Der «New York Times», führte A. G. Sulzberger aus, werde von beiden Seiten im Konflikt in allen Aspekten ihrer Berichterstattung Einseitigkeit oder Parteilichkeit vorgeworfen. Beide Seiten versuchten, die öffentliche Meinung mit hetzerischer Rhetorik zu beeinflussen, sich aber gleichzeitig auf die «Times» zu berufen, wenn die Berichterstattung ihr Narrativ stütze: «Um mich ganz klar zu äussern: Ich sage nicht, dass die Wahrheit notwendigerweise in der Mitte liegt, weder in diesem Konflikt noch in irgendeinem anderen. (…) Und ich glaube nicht, dass ein Nachrichtenmedium etwas richtig macht, wenn sich die Leute auf allen Seiten ärgern. Es ist aber auch kein Beleg dafür, dass ein Medium zwangsläufig etwas falsch macht.»
Trotzdem, sagte Sulzberger in Oxford, sei es ihm wichtig, klar festzuhalten, dass Offenheit gegenüber konstruktiver Kritik ein grundlegender Bestandteil des journalistischen Prozesses ist: «Ein Nachrichtenmedium, das sich solchem Feedback verschliesst, wird zwangsläufig mehr und grössere Fehler machen.» Indes gibt es innerhalb der «Times» unterschiedliche Ansichten darüber, was «konstruktive Kritik» ist und was nicht.
Ein Auslöser interner wie externer Kritik war Ende Dezember eine investigative Geschichte unter dem Titel «Schrei ohne Worte: Wie die Hamas am 7. Oktober sexuelle Gewalt instrumentalisierte». Der 7’000 Worte lange Artikel, von einem erfahrenen «Times»-Korrespondenten und zwei journalistisch eher unerfahrenen lokalen Helfern verfasst, kam zum Schluss, dass die Gräueltaten der Hamas gegenüber Frauen keine isolierten Vorkommnisse, sondern Teil einer umfassenderen Strategie gewesen seien.
Fragwürdige Posts
Die Story begann mit der Beschreibung eines Videos, das eine getötete Israelin zeigte, die Polizeiquellen zufolge höchstwahrscheinlich vergewaltigt worden war. Doch die Familie des Opfers dementierte in der Folge, dass es eine Vergewaltigung gegeben hatte, was die «Times» später auch berichtete, nachdem die Story viel Aufsehen erregt hatte. Die News Website «The Intercept», die als erste das Dementi der Angehörigen publiziert hatte, enthüllte weiter, dass eine Mitarbeiterin der «Times»-Story in den sozialen Medien verschiedene pro-israelische Posts gelikt hatte.
Einer dieser Posts verglich Palästinenser mit «menschlichen Tieren» und plädierte dafür, Gaza in ein «Schlachthaus» zu verwandeln. Er forderte Israel auch auf, die Vorstellung einer «Proportionaliät» zugunsten «einer disproportionalen Reaktion» aufzugeben und ermutigte die israelische Armee, «jede Norm zu verletzen», die nötig sei, um den Krieg zu gewinnen. Die Zeitung hat mitgeteilt, sich so in den sozialen Medien zu verhalten, sei «inakzeptabel» und sie untersuche den Fall.
Ende Januar hatte «The Intercept» ausserdem berichtet, dass die Ausstrahlung eines Podcast unter der äusserst populären «Times»-Rubrik «The Daily» gestoppt wurde, nachdem sich redaktionsintern eine äusserst heftige Debatte entzündet hatte, was die Qualität der Recherche hinter der fraglichen Geschichte zu den Gräueltaten der Hamas betraf. Zwar hat die «Times» dementiert, die «Daily»-Episode sei wegen eines fahrlässigen Faktenchecks gestrichen worden, gleichzeitig aber eine seltene interne Untersuchung angeordnet und mindestens zwei Dutzend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befragt, um herauszufinden, wie vertrauliche Überlegungen zum Status des Podcast nach aussen dringen konnten.
Unausgewogenheit der Berichterstattung
«The Intercept» erinnerte auch daran, dass Leo Khan, der Vater von «Times»-Chefredaktor Joe Kahn, lange Zeit Mitglied des Führungsgremiums des «Committe for Accuracy in Middle East Reporting (CAMERA) gewesen ist, einer Organisation, die mit teils rabiaten Methoden eine positive Medien-Berichterstattung über Israel durchzusetzen versucht. Vater und Sohn hätten die Berichterstattung der Zeitung oft zusammen seziert, stand 2022 in einem internen Porträt über Joe Kahn, als er Chefredaktor wurde.
«The Times Guild», die hausinterne Gewerkschaft, die fast 1’500 Journalistinnen und Journalisten vertritt, wirft dem Management vor, Mitarbeitende nahöstlicher Herkunft gezielt zu ihrer Einstellung gegenüber der Nahost-Berichterstattung der Zeitung befragt zu haben – ein Vorwurf, den die Zeitung dementiert: «Niemand auf unserer Redaktion oder in unserem Unternehmen ist aufgrund seiner ethnischen oder nationalen Abstammung je näher überprüft worden und er wird es auch nicht werden. So etwas wäre zutiefst anstössig und die Anschuldigung der Gewerkschaft ist falsch.»
Intern dezidierte Kritik an der Gaza-Berichterstattung der «New York Times» äussert auf Instagram jedoch auch Datenjournalistin und Illustratorin Mona Chalabi, die im vergangenen Jahr für ihr Werk mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden ist. Die «Times», schreibt die 37-Jährige, habe zwischen dem 7. und 18. Oktober 2023 laut 500 untersuchten Artikeln israelische Tode öfter erwähnt als palästinensische. Ausserdem nehme solche Berichterstattung darüber zu, während immer mehr Palästinenser sterben würden.
Zur Unausgewogenheit der Berichterstattung trete ein riesiger Unterschied in Sachen Sprachgebrauch: «Das Wort ‘Abschlachten’ ist seit 10/7 in 53 Fällen verwendet worden, um den Tod von Israelis zu beschreiben und kein einziges Mal im Fall von Palästinensern. Das Wort ‘Massaker’ kommt 24-mal vor im Zusammenhang mit Israelis und ein einziges Mal im Kontext von Palästinensern.» Tote Palästinenser würden, anders als israelische Opfer, nur selten namentlich erwähnt; stattdessen seien sie «Bewohner», «Angreifer» oder «Militante». Zu untersuchen bleibt, ob sich diese Zahlen und diese Beschreibungen in der Zwischenzeit verändert haben.
Umstrittene Umfrage
Externe Kritik an der «New York Times» ist ferner laut geworden, was ihre Berichterstattung über Joe Biden und Donald Trump betrifft. Die Zeitung, heisst es, lasse sich durch ihre Besorgnis in Sachen Alter des Präsidenten ablenken und schenke der Gefahr einer zweiten Amtszeit des Ex-Präsidenten für Amerikas Demokratie nicht genügend Aufmerksamkeit. Die «Times», sagen Kritiker, beurteile die beiden Präsidentschaftskandidaten gemäss deplatzierten Standards, was sich unter anderem in falscher Ausgeglichenheit äussere bei Berichten über den demokratisch gewählten Amtsinhaber im Weissen Haus und seinem Herausforderer, der sich in 91 Punkten angeklagt sehe und darüber fantasiere, gleich am «ersten Tag» ein Diktator zu sein.
Nationales Aufsehen erregte unlängst die Veröffentlichung einer Umfrage der «Times» und des Siena College, wonach eine Mehrheit von Biden-Wählerinnen und -Wählern fand, Joe Biden sei zu alt, um ein guter Präsident zu sein. «Wer hat Alter zum ‘Thema’ gemacht?», fragte Journalismus-Professor Jeff Jarvis: «Die gutgläubige Times, die auf eine Projektion der Rechten hereinfällt. Das ist nicht Journalismus. Schändlich.» Jarvis fragte, ob die «Times» Wählerinnen und Wähler gefragt habe, ob Trump «zu wahnsinnig, tattrig, rassistisch, kriminell, verräterisch, hasserfüllt» sei, um ein effizienter Präsident zu sein. «Das ist keine Umfrage», schloss der Professor: «Das ist eure Agenda.»
Bill Carter, ein früherer Medien-Reporter der «Times», räumt ein, dass die Zeitung nicht vollkommen sei und es gelegentlich vorkomme, dass ihre Berichterstattung Amerikas politischer Dynamik hinterherhinke und dabei zu wenig deutlich schreibe, dass die eine Seite die Wahrheit und die Wissenschaft als Gegner betrachte, den es zu bekämpfen gilt: «Kann sein, dass die Medien nicht genügend laut Alarm geschlagen haben, um die Nation an die existenzielle Bedrohung ihrer Demokratie zu erinnern. Doch falls die Demokraten nach all der Berichterstattung (über dessen Skandale und Lügen) gegen Trump verlieren, wird das nicht der Fehler der Medien, sondern der Partei sein.»
A. G. Sulzberger dürfte mit dieser Einschätzung leben können: «Du musst bereit sein, dir einzugestehen, dass wir nicht immer richtig liegen. Dass Kritiker manchmal recht haben. Unabhängigkeit darf kein Schutzschild sein, um berechtigte Klagen abzuwehren oder sich vor Fehlern zu verstecken.» Nach wie vor ist die «New York Times» eine der wenigen Zeitungen in den USA, deren Besitzer aktiv und grosszügig in Journalismus investieren. Was sich im Übrigen mit Blick auf die Abonnentenzahlen auch auszahlt.
Auch pflegt die «Times» ihrem Verleger zufolge eine ausgeprägte Fehlerkultur und hat entsprechende Instanzen installiert: «Die Times nimmt Vorwürfe wegen Irrtümern ernst, mit einem ganzen Team von Redaktorinnen und Redaktoren, die um die Einhaltung von Standards besorgt sind und Bedenken überprüfen und auf sie antworten. Wenn wir Fehler machen, korrigieren wir sie umgehend und öffentlich, und wir bemühen uns dann, für die Zukunft aus ihnen zu lernen.»