Nächstes Jahr wird er neunzig – kein Grund für Woody Allen, mit der Filmerei aufzuhören. Am letztjährigen Filmfestival Venedig präsentierte der bekennende New Yorker seine jüngste Arbeit: seinen fünfzigsten abendfüllenden Spielfilm in eigener Regie. «Coup de chance» spielt nicht nur erneut in Paris, anders als «Midnight in Paris» wurde er auch auf Französisch gedreht.
Apropos Alter: Allen ist von den aktiven amerikanischen Regisseuren bekanntlich keineswegs der älteste. An erster Stelle zu nennen ist wohl der grosse (1 Meter 93) Clint Eastwood, der ihn nicht nur um knapp dreissig Zentimeter und somit um Haupteslänge überragt, sondern auch fünfeinhalb Jahre älter ist. Beide eint übrigens ihre Liebe zum Jazz. Aber natürlich ist Woody Allen einzigartig darin, wie er stets eigene Drehbücher umsetzt. Und während Eastwood seine Schauspieler-Persona doch weitgehend Regisseuren wie Sergio Leone oder Don Siegel zu verdanken hat, sind die pfiffigen Loser und selbstquälerischen Intellektuellen, all diese Virgils, Alvys, Sandys, Lennys, Larrys und Harrys, den einen und einzigen Zelig, das menschliche Chamäleon, nicht zu vergessen, das Produkt seiner ureigenen Phantasie.
Murder mystery à la française
Offenbar sollte «Coup de chance» ursprünglich erneut das populäre Thema der «Americans in Paris» variieren. Nach dem gewaltigen Erfolg, den «Midnight in Paris» (2011) in den USA hatte, wo Allens Filme lange schon durchzufallen pflegten, bevor sie, wie nun in jüngster Zeit, schlicht gecancelt wurden, schien eine Wiederauflage dieses Evergreens jedenfalls eine naheliegende Idee. Doch irgendwie war das passende amerikanische Personal nicht verfügbar, und so hat Allen – bemerkenswert für einen Amerikaner – das Drehbuch eben auf Französisch abgefasst. Dies nicht nur im Wissen, dass Cast und Equipe wo nötig Unterstützung leisten würden. Mit am Set waren die beiden Töchter, die perfekt französisch sprechen, wie Valérie Lemercier sagt; die Schauspielerin, Chanteuse und Komikerin hat hier die matchentscheidende Rolle der Schwiegermutter des Bösewichts inne.
Denn zu seinem und zunehmend auch unserm Vergnügen hat sich Woody Allen wieder einmal ein «murder mystery» ausgedacht. Obwohl die Abfolge kurzer und sehr kurzer Szenen eine zügige Erzählweise zu suggerieren scheint, geht es vorerst gemächlich zur Sache, mit jener heiteren Geschwätzigkeit, die das Allen’sche Personal seit jeher charakterisiert. Zunächst einmal lässt der «Zufall», dem das letzte Wort des Films gehören wird, in der ersten Szene auf einem Boulevard Fanny und Alain aufeinandertreffen, die sich seit Highschool-Tagen nicht mehr gesehen haben.
Die Begegnung löst in Alain (der französisch-kanadische Schauspieler Niels Schneider, nicht ganz frei von «Woody»-Imitation) den sofortigen und heftigsten Balzreflex aus. Fanny (Lou de Laâge) lässt sich das Gurren und Turteln erst ganz gern und dann immer lieber gefallen, obwohl sie doch perfekt verheiratet ist. Aber ach, war der erste Mann ein kompletter Versager, ist dieser Jean (Melvil Poupaud), deutlich älter als sie, der sie verwöhnt und mit teurem Schmuck behängt, letztlich nicht mehr als ein Trophäenjäger und Fanny seine stolzeste Beute.
Die Affäre, die Detektei, das Kleinflugzeug
Kurz und ungut, Fanny steckt alsbald mitten in einer Affäre mit diesem Bohémien, der da nach Paris gekommen ist, um an seinem Roman zu werkeln. Und da sie das Ganze ausgesprochen dilettantisch angeht, wird Jean, dessen Beruf irgendwie darin besteht, «die Reichen noch reicher zu machen», erst etwas und dann immer dezidierter misstrauisch. Zeit für den Film, allmählich etwas spannend zu werden. Denn nun bekommt Jean von der Detektei, die er konsultiert, umgehend alle sachdienlichen Informationen – das Liebespaar macht es der Detektivin, die auf Fanny angesetzt wird, auch wirklich nicht schwer.
Das Telefongespräch, das Jean jetzt führt, ist mit Dragos (Sâm Mirhosseini) aus dem Boxschuppen und enthält äusserst detaillierte Instruktionen. Wenn sich daher die Tür des Hauses, in dem zuoberst die Wohnung des Poeten liegt, öffnet und wir die Männer mit der unförmigen Tasche herauskommen sehen, schwant uns nichts Gutes. Und nicht zuversichtlicher stimmt uns das Kleinflugzeug, das anschliessend bestiegen und Kurs Richtung Atlantik nehmen wird. Immerhin hat die Drastik, mit der der Mob noch in «Café Society» (2016) zu Werk gehen durfte, hier der dezenten Anspielung Platz gemacht.
Auf zur Jagdpartie
Auftrag ausgeführt, Jean, höchlichst zufrieden, lässt sich nichts anmerken, während Fanny zunehmend verzweifelt, weil sich Alain nicht mehr meldet. Verstört entdeckt sie schliesslich die leergeräumte Wohnung und kann nichts anderes annehmen, als dass sie Knall auf Fall verlassen worden ist. Doch da ist ja noch Camille, ihre Mutter, die obenerwähnte Schwiegermutter Jeans, zu Besuch aus New York (von dem sie «nicht genug bekommen kann», obwohl sie «die Winter in Palm Springs verbringt»). Und da sie «Krimis liest» und, schlimmer noch, «Fernsehen schaut», fallen ihr, nachdem sich Fanny ihr offenbart hat, einige Ungereimtheiten auf. Sie wird zur Ermittlerin – dilettantisch genug, um Jean, der ihr eben noch stolz die jüngste Märklin-Erwerbung für seine Modelleisenbahn vorgeführt hat, erneut Kontakt mit Dragos aufnehmen zu lassen. Und obwohl dieser bestürzt beteuert, noch nie ein Gewehr in Händen gehalten zu haben, hat Jean schon alles organisiert zur Jagdpartie mit der Schwiegermama.
Die Welt ist nicht schön, lautet einer der Merksätze, wie sie an den immergleichen Partys zum Besten gegeben werden, zu denen Jean zu ihrem Verdruss Fanny mitzuschleppen pflegt, aber: Wenn gewisse Leute sterben, verbessert sie sich automatisch. Vorausgesetzt, der Zufall führt Regie.