Am 24. Dezember 2013 erschien im Journal 21 Eduard Kaesers Artikel, in dem er fundiert «gegen den faulen Frieden zwischen Wissen und Glauben» Stellung bezog. Der Beitrag, der grosse Linien eines der modernen Grundprobleme skizziert, soll nicht einfach im stetigen Strom der News entschwinden. Deshalb wird das Thema hier mit ausdrücklichem Bezug zur Kaesers Text erneut aufgegriffen und in einzelnen Punkten weiter ausgeführt.
Papst plädierte für die Weite der Vernunft
Die Regensburger Rede vom 12. September 2006 des Damals-noch-Papstes Josef Ratzinger liefert Kaeser einen Steilpass. Benedikt hatte in seiner Vorlesung (die wegen sachlich kaum begründeten Reaktionen aus der islamischen Welt auf eine bestimmte, hier nicht zu erörternde Passage damals für Aufregung sorgte) für eine neue Zusammenführung von Wissenschaft und Glauben plädiert, indem wir, wie er sagte, «die selbst verfügte Beschränkung der Vernunft auf das im Experiment Falsifizierbare überwinden und der Vernunft ihre ganze Weite wieder eröffnen.»
In diesem päpstlichen Postulat könnte man bei wohlmeinender Interpretation eine begründete Kritik an der Hegemonie der Naturwissenschaften sehen. In der Tat gibt es eine gesellschaftlich, kulturell und forschungspolitisch problematische Tendenz, andere Fächer weniger wichtig zu nehmen. Werden vernünftige Aussagen exklusiv als das im Experiment Falsifizierbare definiert, so drohen nicht nur Rationalitätskonzepte von Human- und Sozialwissenschaften unter den Tisch zu fallen, sondern erst recht alle Vorstellungen von lebenspraktischer Vernünftigkeit.
Solche Ausdifferenzierungen des Rationalitätsbegriffs haben in der neueren Philosophie Karriere gemacht und die Entwicklung von Wissenstheorien begleitet. Beim Nachdenken über das Verhältnis von Glauben und Wissen empfiehlt es sich, nicht mit einem so engen Begriff von Vernunft zu operieren wie dem von Ratzinger in Regensburg kritisierten. Besser hält man sich etwa an die sozialphilosophisch gewonnene Vernunftkonzeption eines Jürgen Habermas. Er hat für die Rationalität von Äusserungen drei Kriterien benannt: Kommunikative Handlungen sind rational, sofern sie erstens begründungs-, zweitens verbesserungs- und drittens konsensfähig sind.
Gegen Vernebelung von Gegensätzen
Diese konzise Erweiterung des Vernunftbegriffs gegenüber einem Popper’schen Rationalismus (rational ist, was falsifizierbar ist) gilt es für unser Thema im Auge zu behalten. Sie meint aber offensichtlich nicht das gleiche wie jene «ganze Weite» der Vernunft, welcher Benedikt das Wort redete. Kaeser hat gute Gründe, sich solchen «Gesten der Versöhnung» zu entziehen. Nicht um Aussöhnung zwischen unnötigen Gegensätzen geht es in der päpstlichen Rationalitätsvorstellung, sondern um die Eingemeindung der autonomen Vernunft in eine vormoderne Universalität, die selbstverständlich der übernatürlich geoffenbarten Glaubenswahrheit unterstellt ist.
Geht man bei der Gegenüberstellung von Glauben (bzw. Offenbarung) und Wissen (bzw. Rationalität) von einem derartigen metaphysisch-religiösen Weltbild aus, so landet man allerdings bei einem fundamentalen Gegensatz, der nur als Machtkampf ausgetragen werden könnte. Da ginge es dann wirklich darum, das in der leidvollen und grossartigen abendländischen Geistesgeschichte Gelernte gegen neue klerikale Übergriffe zu verteidigen.
Mit taktischen Versöhnungsgesten, mit mehr oder weniger gezielten Begriffsvernebelungen und einer vereinnahmenden Ideologie der Ganzheitlichkeit wird hüben und drüben versucht, den Gegensatz zwischen Offenbarung einerseits und verbesserungs-, begründungs- und konsensfähigem Wissen andererseits zu verwischen. Neben der päpstlichen Avance von Regensburg nennt Kaeser als ähnlich gearteten Vorstoss der Gegenseite die immer mal wieder modisch aufbereitete «Religionisierung» der Naturwissenschaft.
Gefangen in vormodernem Weltbild
In seinem Kerngehalt scheint der Gegensatz von Glauben und Wissen jedoch nicht auflösbar zu sein. Kaeser fragt nach dem Grund dieser fundamentalen Unvereinbarkeit. Seine Lösung: Es stehen sich Wissenskonzepte mit «zwei Auffassungen von Existenz» gegenüber. Während die Wissenschaft von der Existenz realer Dinge wisse, meine der Glaube von der Existenz Gottes zu wissen.
Die damit anvisierte Weise des Glaubens ist mit einem metaphysischen Weltbild verbunden. Nimmt man die Existenz einer übernatürlichen (meta-physischen) Sphäre als sichere dingliche Gegebenheit, so erlaubt dies in der Folge Aussagen wie «ich weiss, dass Gott existiert». Doch diese Zeiten sind vorbei. Vom Theologen Dietrich Bonhoeffer stammt der Satz: «Einen Gott, den 'es gibt', gibt es nicht.»
Mit der Delegitimation metaphysischer Weltbilder durch das Fortschreiten naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und das Aufbrechen des metaphysisch verbürgten soziokulturellen Werte- und Herrschaftssystems verlor die Religion zunächst ihr philosophisches Habitat, später dann ihre geistige Selbstverständlichkeit und schliesslich ihren gesellschaftlichen Einfluss – ein Prozess, der ungleichmässig und schwankend verläuft, aber in der christlich-abendländischen Welt im Prinzip nicht umkehrbar ist.
Angesichts des Verlusts des metaphysischen Gehäuses bleibt nur die Wahl, Religion als rationale Denkmöglichkeit aufzugeben oder sie radikal von übernatürlichen Vorstellungen zu lösen und auf moderne Weise neu zu verstehen. Nicht nur die päpstliche Strategie, sondern wohl die der meisten autorisierten Christentumsvertreter gehen dieser geistigen Herausforderung, das eigene Haus neu zu bestellen, geflissentlich aus dem Weg.
Moderne Konzepte von Religion
Trotzdem ist natürlich das Nachdenken über Religion in der modernen Welt nicht stehengeblieben. Einen der dabei ins Zentrum gerückten Begriffe für ihre Neuverortung greift Kaeser in seinem Beitrag auf: Religion generiert Sinn und befriedigt so ein rationales Bedürfnis in einer (natur-)wissenschaftlich entzauberten, jedes Sinns entkleideten Welt.
Ein anderes, damit eng verbundenes Konzept ist das des kulturalistischen Verständnisses von Religion: Die Glaubensinhalte und mehr noch die Geschichten und Mythen der Religion spiegeln und vermitteln soziokulturelle Grundübereinkünfte. Dazu zählen etwa der Wert des Menschenlebens, die Würde der Person, aber auch Vorstellungen von Empathie, Altruismus, Respekt für gesellschaftliche Grundordnungen.
Solche Basics werden vermittelt in religiösen Traditionen oder auch in religionsartigen Settings bedeutungstragender Inhalte. Der Strukturalismus hat sie als «grosse Erzählungen» analysiert. Er verweist damit auf die narrative Form von Vergewisserungsstrategien und macht die funktionale Ähnlichkeit religiöser, zivilreligiöser und quasireligiöser Grundierungen sichtbar. Ihr Zweck ist es, die Vernünftigkeit gesellschaftlich erwünschten Handelns symbolisch zu begründen.
Eine dritte Konzeption des Religiösen abseits metaphysischer Systeme liegt in dessen prophetischer Dimension. Die Figur des Propheten ist ein Typus, dessen «wilde», nicht institutionalisierte und kaum zu domestizierende Religiosität die vertrauten Glaubensinhalte plötzlich als vehemente Kritik und kühne Vision aktualisiert. So haben Prophetengestalten des Alten Testaments soziale Missstände und Machtmissbrauch der Herrschenden mit der gleichen Verve angeprangert, wie sie Aufweichungen der religiös-kulturellen Identität ihres Volks geisselten. Auch in Jesus von Nazareth erkannten Zeitgenossen wie Nachfahren mitunter eine Prophetengestalt. Schlicht als der Prophet gilt seinen Anhängern der Gründer des Islam. Auch auf einen Franz von Assisi sowie auf Personen wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Nelson Mandela passen die Merkmale des Prophetischen.
Selbstermächtigung in Ausnahmesituationen
In seinem unbedingten Anspruch und seiner Art der Selbstermächtigung, die auf ein Absolutes rekuriert, ist der Prophetentypus ein «religiöses» Phänomen, und zwar selbst dann, wenn er sich (wie etwa Mandela) nicht prominent religiös äussert. Propheten sind historische Ausnahmegestalten. Eine Prophetenrolle – egal, ob sie sich im engeren Sinn religiös oder eher politisch-ethisch artikuliert – hat immer übermenschliches Format. Sie kann ihren Träger gross machen oder tragisch scheitern lassen. Auf jeden Fall kann man sie sich nicht aussuchen. Ein Beobachter könnte sagen, es sei die Geschichte, deren heimliche Rationalität (Hegel sprach von der «List der Vernunft») an bestimmten Bruchstellen solche Gestalten hervorbringt. Für den Gläubigen ist es Gott, der sie schickt.
Geht man, wie gerade skizziert, von einem breiten Spektrum vernunftgeleiteter Auffassungen von Religion aus, so erweitert sich die Diskussion über Wissen und Glauben. Die «ganze Weite der Vernunft» die Benedikt anmahnte, könnte sich so doch noch eröffnen; allerdings nicht in der scholastisch-vormodernen Welt des Papstes, sondern auf dem offenen Feld modern differenzierter Rationalitätskonzepte.
Exemplarischer Disput: Schöpfung oder Evolution
Seit Beginn der Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist es vor allem ein religiöser Topos, der immer wieder im Brennpunkt des Streits zwischen Wissen und Glauben steht, nämlich das Thema der Schöpfung. Es findet im Konzept der Evolution den Widerpart, der sich anheischig macht, das religiös unter dem Begriff Schöpfung Abgehandelte rational als Selbsttätigkeit der Natur zu erklären. Hier stehen sich somit zwei Erzählungen gegenüber: die vom Urknall als Beginn der physikalischen Gesetze sowie von Raum, Zeit und Materie – und die der Erschaffung der Welt durch Gott gemäss den biblischen (übrigens recht verschiedenen) Texten.
Bei der Urknall-Erzählung ist klar, dass es sich um eine metaphorische Umschreibung höchst unanschaulicher Theorien handelt. Von einem Grossen Bumm könnte man ja eigentlich nur reden, wenn ihn jemand zumindest im Prinzip hätte hören können. Doch trotz aller Fragen und Zweifel, die dieser Geschichte quasi schon eingeschrieben sind, ist sie höchst erfolgreich. Sie gehört zum Inventar moderner Weltbilder.
Creatio continua
Auch die biblisch-christlichen Schöpfungsgeschichten sind geläufig und populär, und zwar nicht nur bei Kreationisten, die sie geistlos und buchstabengetreu gegen die Evolutionstheorie in Stellung bringen. Doch die Hardcore-Fundis sind nicht die einzigen, die das biblische Schöpfungskonzept missverstehen. Die entsprechenden Erzählungen sind paradoxerweise zu anschaulich und einprägsam, als dass die eher verborgenen, aber höchst interessanten Gehalte des religiösen Schöpfungsgedankens gross zum Zuge kämen.
Hervorgehoben sei hier nur ein Aspekt: Neben der Vorstellung, Gott habe die Welt «am Anfang» geschaffen, tritt immer schon der Gedanke, es bedürfe eines permanenten göttlichen Schaffens, einer Creatio continua, um die Welt zu erhalten. Schaffung und Erhaltung der Welt sind eigentlich eins. Der grosse Theologe Friedrich Schleiermacher konnte sogar sagen, das Primäre sei die Erhaltung der Welt; die Vorstellung von ihrer Erschaffung sei sekundär davon abgeleitet.
Erst in dieser Sicht erschliesst sich ein Verständnis für die theologisch zentrale Vorstellung einer unabgeschlossenen, fortdauernden, prozesshaften Schöpfung. Auf diesem Hintergrund ergibt sich eine ganz andere Diskussion zwischen Wissen und Glauben oder zwischen Naturwissenschaft und Theologie als der (vor allem von religiöser Seite, aber nicht nur von ihr) fundamentalistisch befeuerte Stellungskrieg zwischen Schöpfung hüben und Big Bang samt folgender Evolution drüben.
Herausforderung zur Zweiten Aufklärung
Kaeser plädiert zum Schluss seines Essays dafür, die Arbeit an einer Zweiten Aufklärung aufzunehmen, die dem laufenden Projekt einer reflexiven Moderne verpflichtet ist. Beide Seiten, die des Glaubens wie des Wissens, müssen die reinigenden Bäder dieser erneuten kritischen Selbstprüfung durchlaufen. Der Wissens-Seite sollte das dank ihrer habituellen fundamentalen Skepsis allen erreichten Wissensständen gegenüber eigentlich nicht schwerfallen – die pseudo-aufklärerischen Besserwisser wie die sich selbst «The Brights» nennenden Fundis einmal ausgenommen.
Auf der religiösen Seite hingegen hat schon die erste Aufklärung grösste Mühen bereitet. Die zweite wurde vereinzelt mit durchsichtigen Motiven willkommen geheissen: Man erhoffte sich eine Revision der Aufklärung in dem Sinn, dass deren religiös unbewältigte Postulate vielleicht zurückbuchstabiert würden.
Zu solch würdelosen Hoffnungen besteht indes kein Anlass. Zweite Aufklärung heisst, es kommen zur Durchleuchtung von Glaubensaussagen und religiösen Legitimationen sozialer Verhältnisse nun auch die kritischen Anfragen an Denkvoraussetzungen, Sprache und Diskursstrategien der Religion hinzu. Die unausweichliche, aber auch vielversprechende Auseinandersetzung zwischen Wissen und Glauben macht es notwendig, die Aufklärung der Religion voranzutreiben im Sinne der Illuminatio continua.