Es gibt Gesten der Versöhnung, denen entzieht man sich besser. In seiner berüchtigten Rede in Regensburg forderte Papst Benedikt XVI. die moderne Intelligenz auf, Wissenschaft und Glauben auf neue Weise zusammenzuführen, indem „wir die selbst verfügte Beschränkung der Vernunft auf das im Experiment Falsifizierbare überwinden und der Vernunft ihre ganze Weite wieder eröffnen.“
„Religionisierung“ der Naturwissenschaft
Das klingt vordergründig gut, aber die „Weite der Vernunft“ meint natürlich Gottes Vernunft, und auf diese Weise riskiert man, den mühevollen geschichtlichen Lernprozess der Ausdifferenzierung von Offenbarung (Glaubensevidenz) und empirischem Beweis („evidence“) rückgängig zu machen.
Dieser unheiligen Akkolade von Wissen und Glauben arbeitet – zumindest auf den ersten Blick - eine Erweiterungstendenz in den Naturwissenschaften zu, welche man als „Religionisierung“ charakterisieren könnte. Sie passt gut ins Zeitalter der hemmungslosen Sinnbewirtschaftung. Die einschlägigen Regale in den Buchhandlungen sind gefüllt mit Büchern, die von Naturwissenschaft und Religion, Biologie und Schöpfung, Gott und der modernen Physik, der Physik der Unsterblichkeit, von der Gottesformel, von Gottespartikeln usw. handeln. „Science finds God“ titelte 1998 das Magazin Newsweek und brachte damit dieses Verhältnis von Wissenschaft und Religion auf einen bedenklichen Punkt. Eine der bekanntesten Demarchen auf Seiten der Naturwissenschaften stammt vom verstorbenen Paläontologen Stephen Jay Gould, der von zwei sich nicht überschneidenden Lehrämtern sprach (NOMA: „Non–Overlapping Magisteria“). Die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit der faktischen Seite der Natur, die Religion mit der sinnhaften.
Der Lückenbüsser-Gott
So einfach ist die Lage freilich nicht. Die Naturwissenschaften erklären die Phänomene der Natur als ungeschaffen. Die Religion erklärt die Natur als von einem Schöpfer geschaffen. Dadurch kommen sich beide „naturgedrungen“ ins Gehege. Und seit Anbeginn, also seit dem 17. Jahrhundert, entbrennen um diese Gehege immer wieder Konflikte, die nicht aus der Welt zu schaffen sind. Im Zuge der Herauslösung der Natur aus einer göttlichen Weltordnung kam die Theologie zusehends in Erklärungsrückstand. Biblische Wahrheiten hielten den Wahrheiten der „Bibel“ Natur nicht stand.
Das nahmen progressive theologische Autoren zum Anlass, den Glauben nicht durch Offenbarungen, sondern durch wissenschaftliche Entdeckungen zu stützen. So entstand die „natürliche“ Theologie, welche das Leben auf der Erde, seine Vielfalt, als Zeichen, wenn nicht gar als Beweis für das Schaffen und Wirken eines Schöpfers interpretierte. Vor allem in den Lücken naturwissenschaftlicher Erklärung suchte dieses Unterfangen quasi nach Gucklöchern auf Gott. Je mehr sich die Naturwissenschaft als erfolgreiche Erklärungsstrategie durchsetzte, desto mehr wurde dieser Gott zu einem Lückenbüsser-Gott. Und es ist letztlich dieser Gott, der heute für Aufsehen sorgt, wenn er etwa im „Intelligent Design“ auftritt. Oder im sogenannten „anthropischen Prinzip“, welches die Tatsache, dass es Menschen gibt, als Zeichen für eine übernatürliche Feinabstimmung des Universums interpretiert.
Zwei Auffassungen von Existenz
Das bringt uns zur Kernfrage: Was soll eigentlich versöhnt werden? Meine Antwort ist einfach: Zwei Auffassungen von Existenz. Der Wissenschafter sagt: Ich weiss, dass Elektronen existieren. Der Gläubige sagt: Ich weiss, dass Gott existiert. Zweimal „Ich weiss“, und zweimal „existieren“, aber beide Aussagen trennt eine unüberbrückbare Kluft. Im „Ich weiss“ des Wissenschafters steckt immer Ungewissheit, eine Grundskepsis gegen letzte Überzeugungen. Unfehlbarkeit ist anrüchig, ein Defekt. Der Wissenschafter kann – obwohl auf der Suche nach Wahrheit – nicht auf die Falschheit als Komplizin verzichten. Dagegen ist das „Ich weiss“ des Gläubigen (ob durch Offenbarung, Autorität, mystische Erfahrung oder anderswie bestärkt) eine Aufhebung der Grundskepsis. Ein Ausdruck tiefen, existentiellen Vertrauens.
Dieses Vertrauen kann nicht als falsch im wissenschaftlichen Sinn herausgestellt werden (wohl aber im Sinn einer existentiellen Krise: als „falsches“ Leben). Mit wissenschaftlichen Mitteln lässt sich ein Glaube weder beweisen noch widerlegen. Die Evolutionstheorie beseitigt keinen Gottesglauben, wie das Richard Dawkins predigt. Die Endlichkeit des Universums ist kein Beleg für die biblische Schöpfungsauffassung, nur weil diese das gleiche sagt. Die Indeterminiertheit der Quantenwelt ist kein Einfallstor für göttliche Interventionen, wie man das von „theistischen“ Physikern zu hören kriegt. All dies ist ebenso pseudowissenschaftlicher wie pseudoreligiöser Zimt.
Das fundamentale Dilemma
Der Wahrheitsanspruch des Glaubens erweist sich immer als Sinnanspruch. Gerade den kann die Wissenschaft nicht erheben. „Je begreiflicher uns das Universum wird, desto sinnloser erscheint es auch“, schreibt der Physiker Steven Weinberg in „Die ersten drei Minuten“. Das bringt das Dilemma simpel und sauber auf den Punkt. Einerseits mögen wir es hinnehmen, dass das Universum nichts als ein ungeheurer blinder Prozess ist, der vor rund 14 Milliarden Jahren im Urknall begann. Andererseits wollen wir, da wir nun schon mal existieren, nicht in einer Welt leben, in der alles einfach „geschieht“, ohne uns.
Wir wollen eingebunden sein in eine Geschichte, in der etwas gemeint ist mit uns. Die Bibel z.B. liefert uns eine solche grandiose Geschichte, die Anfang und Ende hat. Wie unser Leben. Erst ein Ende macht es ganz, heil, sinnvoll. Es gehört wohl deshalb zu unserem „Ende“-Bedürfnis, dass wir unserem Leben die Struktur einer Erzählung geben wollen. Viele Menschen denken und empfinden zumindest so. Nicht zuletzt auch Wissenschafter. Sie treiben ja nicht einfach Forschung als sinn- und zweckloses Naturereignis, sie wollen ihre Resultate in einem Zusammenhang sehen, und letztlich ist auch der wissenschaftliche Kontext ein Sinnzusammenhang.
Evolution und Schöpfung
Kann man das Evolutionsmodell vertreten und trotzdem an einen Schöpfergott glauben? In einer Hinsicht nicht. Wir haben im Verlauf der menschlicher Erkenntnisentwicklung gewisse Dinge gelernt, die man nicht mehr ver-lernen kann, ohne seine Zivilisiertheit aufs Spiel zu setzen. Wer behauptet, die Welt sei vor zirka siebentausend Jahren in sechs Tagen entstanden, wer behauptet, es gäbe „überwältigende“ Beweise für göttliches Design in der Natur, wer behauptet, New Orleans sei überschwemmt worden, weil Gott die Homosexuellen strafen wollte, wer einer Komapatientin die Sterbehilfe aus doktrinären Glaubensgründen verweigert - wer also im Namen des Glaubens einen bestimmten Wissensstand unterläuft, bekundet nicht Religiösität, sondern schlicht Mangel an erwachsenem Geistesformat.
Der Einspruch der Religion
In einer anderen Hinsicht aber ist der Einspruch der Religion ernst zu nehmen: Fortschritt überwindet nicht nur, er verdrängt auch. Und wenn speziell die wissenschaftliche Rationalität kaum noch auf „Gottes weisen Ratschluss“ hört, hat sie unser altes Bedürfnis nach Sinn keineswegs überwunden, sondern bloss verdrängt. Die Psychoanalyse lehrt uns, dass Verdrängtes in anderer Gestalt wiederkehrt. Dazu zähle ich die Fundamentalismen in Wissenschaft und Religion, aber auch den postmodernen Basar der Spiritualität und Ersatzreligiosität – meiner Meinung nach Degenerationsformen des alten Bedürfnisses: Kulturneurosen quasi.
Wir sollten uns deshalb von den unseligen Kulturkämpfen zwischen Glauben und Unglauben lösen, und stattdessen die Arbeit einer zweiten Aufklärung aufnehmen, die darin bestünde, die Fortschritte der wissenschaftlichen Rationalität aus der Perspektive des von ihr Verdrängten zu analysieren. Dazu brauchen wir eine Vernunft, die Wissenschaft und Religion als Menschheitsversuche sieht, in der Welt heimisch zu werden. Und diese Vernunft baut vor allem auf Gründe, die in dieser Welt liegen und nicht von überweltlichen Instanzen diktiert werden. Gewiss, wir werden dadurch die Spannung zwischen Wissenschaft und Religion nicht beseitigen. Wir werden sie – auf jedem erreichten Wissensniveau – aushalten müssen. Wahrheitsanspruch und Sinnanspruch sind unauflösbar – theologisch: unerlösbar – in unsere Existenz gewoben. Sie lassen sich nicht versöhnen. Wir verkörpern ihren Widerspruch, jeder Mensch auf seine ureigene Weise, sei er Darwinist oder Kreationist, Christ oder Muslim. Widersprüche beseitigen wir nur in der Logik. Unsere Existenz ist nicht logisch.
Post scriptum
Der gegenwärtige Papst in einem Interview: „ Wenn eine Person sagt, sie sei Gott mit vollkommener Gewissheit begegnet und wenn sie nicht von einem Saum der Ungewissheit berührt wird, ist das nicht gut. Für mich ist es ein wichtiger Schlüssel. Wenn jemand die Antwort zu allen Fragen hat, ist das ein Beweis, dass Gott nicht auf seiner Seite steht. Es heisst, dass er ein falscher Prophet ist, der die Religion für seine Zwecke missbraucht. Die grossen Führer des Gottesvolkes, wie Moses, haben immer Raum für den Zweifel gelassen. Man muss für den Herrn Raum lassen, nicht für unsere Gewissheiten; wir müssen demütig sein. Ungewissheit steckt in jeder wahren Einsicht, welche sich der Bestätigung im spirituellen Trost öffnet.“ Worte, die zu Hoffnung Anlass geben.