
Die 1978 geborene, in Polen lebende Roma-Künstlerin Małgorzata Mirga-Tas ist mit bunten erzählenden textilen Bildern zu Gast im Kunstmuseum Luzern und zeigt ihr Hauptwerk «Re-Enchanting the World» (Die Welt neu verzaubern), das die Welt der Roma thematisiert.
Die grossen textilen Bilder, welche die Wände des grössten Saales des Luzerner Kunstmuseums rundum bedecken, schauen aus wie Volkskunst – bunt, erzählerisch, erfrischend realistisch und spontan und gar nicht wie manche Kunst von heute, die mitunter weniger die Sinne als den Verstand fordert. Dass Małgorzata Mirga-Tas die Besucherinnen und Besucher täuschen können, und dass sie nicht bei der bunten Volkskunst bleiben und weit mehr als Folklore will – davon später. Erst geben wir uns den optischen und auch haptischen Reizen hin, die von den Stoffbildern ausgehen und uns mit ihrer Präsenz unmittelbar treffen können. Die Künstlerin. Angehörige der Roma und aufgewachsen in einem Dorf mit Roma-Minderheit in der Nähe des Tatra-Gebirges, «malt» mit Stoffen – alten und gebrauchten Kleidern, Bettwäsche, Haushalt-Textilien, die sie zertrennt, neu zuschneidet und zusammennäht, bestickt, faltet und auch bemalt. Sie appliziert darauf textile Schmuck-Elemente, Federn, Haare oder auch Knöpfe und Spielkarten. Das Material stammt aus ihrer Familie oder wurde ihr von Freudinnen und Bekannten zur Verfügung gestellt.
Die Künstlerin erzählt nicht irgendwelche Geschichten. Es geht ihr um die Volksgruppe der Roma, um deren und damit auch um Małgorzata Mirga-Tas‘ eigene persönliche Geschichte. Sie widmet sich der Sache mit Darstellungsmitteln, die sie unverkennbar der Bildwelt der Roma entnimmt. Die Bilder sind über den ganzen ersten Ausstellungssaal in drei Streifen übereinander angeordnet: Das oberste Band zeigt die Wanderung der Roma nach Europa, das unterste Band schildert in Alltagsszenen heutige Angehörige der Roma sowie Ansichten von Roma-Dörfern in einer Landschaft, die je nach Jahreszeit anders erscheint. Dazwischen setzt die Künstlerin fast durchwegs weibliche Figuren, welche die Identität der Roma prägen. Vielleicht sind es Göttinnen? Oft sind es auch Symbole wie bestimmte Tiere, Sterne oder Putten. Die Hintergrundfarbe dieses Bandes ist ein dunkles Blau des nächtlichen Himmels.
Roma-Aktivistin und Feministin
Małgorzata Mirga-Tas‘ Werk ist politisch motiviert. Man kann sie durchaus als Roma-Aktivistin und überdies als Feministin bezeichnen. Die Künstlerin will die Roma-Geschichte neu und aus der Sicht der Frau erzählen. Darum der Titel des raumfüllenden Werkes: «Re-Enchanting the World». Die Hauptfiguren in diesem Bild gewordenen Fluss der Roma-Geschichte sind denn auch Frauen, und die Künstlerin spricht folgerichtig nicht von «History» für die Geschichte, sondern von «Her-Story» als von einer von Frauen geprägten Geschichte, in der die Männer nicht keine, aber doch eine untergeordnete Rolle zu spielen scheinen: Es gibt sie, doch eher am Rand, zum Beispiel in einer Begräbnis-Szene oder als Zuschauer beim Kartenspiel der Frauen oder bei ihrer Näharbeit. Die Frauen besuchen sich gegenseitig, erzählen sich Geschichten, pflegen Kontakte und widmen sich ihrer häuslichen Arbeit, vor allem dem Nähen, Schneidern und Sticken – genau jenen Tätigkeiten, die auch Małgorzata Mirga-Tas‘ Tätigkeiten beim Ausüben ihrer Kunst sind. Es ist, als wolle sie damit sagen: Ich als Künstlerin gehöre dazu; was ich mit meinen Mitteln bewerkstellige, ist, was die anderen Frauen auch tun – nichts Elitär-Abgehobenes also.
In anderen ebenfalls textilen Werken – es sind frei in einem Raum hängende hochformatige Porträts – widmet sich die Künstlerin Grössen der Roma-Kultur, Sängerinnen zum Beispiel. In einem Animationsfilm geht es, und da bringt sie die düstere Seite der Geschichte der Roma, ihrer Verfolgung und der Ermordung an dieser Volksgruppe durch den Naziterror, ins Spiel: Da geht es um Alfreda Noncia Markowska. Die 2021 beinahe 100-jährig verstorbene Roma-Heldin überlebte den Holocaust und rettete zahlreiche Roma- und Judenkinder vor dem sicheren Tod. Die Ausstellung widmet sich mit diesem Werk einer wichtigen Identitätsfrage der Roma und ruft den Völkermord der Deutschen an den europäischen Sinti und Roma in Erinnerung. 250’000 bis 500’000 (die Schätzungen gehen weit auseinander) Angehörige der Roma-Volksgruppe fielen dem Terror der Nazis zum Opfer.
Mehr als Folklore
Dass Małgorzata Mirga-Tas nicht als Exponentin einer exotisch anmutenden Folklore wahrgenommen werden will und dass sie diese auch tatsächlich sprengt, zeigt sich nicht nur im emotional und politisch höchst relevanten Thema, dem sie sich in ihrer Arbeit widmet, sondern auch in ihrem bewussten Rückgriff auf die Kunstgeschichte – konkret auf die Monatsfresken im Palazzo Schifanoia in Ferrara aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert. Der geniale deutsche Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929) vermochte in einem 1912 in Rom gehaltenen Vortrag erstmals das komplexe astrologische Programm dieser Monatsfresken zu deuten und entwickelte daraus seine bahnbrechende Theorie der Motivwanderung durch die ganze Kunst- und Literaturgeschichte vom spätantiken Altertum bis zur frühen Renaissance und – in seinem Bruchstück gebliebenen Mnemosyne-Atlas – weiter bis ins frühe 20. Jahrhundert.
Małgorzata Mirga-Tas nimmt die Wandgliederung des Saales in Ferrara mit der Dreiteilung und der Anordnung der Motive sowie die Trennung der einzelnen Monatsbilder durch Lisenen auf und schreibt sich damit ganz bewusst in die Geschichte der abendländischen, weitgehend männlich geprägten Kunst- und Kulturgeschichte ein und erzählt gleichzeitig die Roma-Geschichte neu. Ebenso erweitert sie die Deutung des Motiv-Transfers durch Warburg um eine eigene, weiblich geprägte Sicht.
Damit gibt Małgorzata Mirga-Tas ihrem Werk «Re-Enchanting the World», das 2022 an der Biennale Venedig auf reges Interesse stiess, einen besonderen Stellenwert und Platz in der Kunstgeschichte. Allerdings mag man den Rückgriff auf das anspruchsvolle Thema auch als anekdotisch, der Sache nicht ganz adäquat und zu hoch gegriffen kritisieren. Und – nicht ganz unwichtig: Wer von den Besucherinnen und Besuchern will und kann Zeit und Energie aufbringen, sich intensiv mit diesem Teilaspekt der Sache zu beschäftigen?
Małgorzata Mirga-Tas
Małgorzatav Mirga-Tas (* 1978 in Zakopane, Polen) ist eine polnisch-rumänische Bildhauerin, Malerin und Aktivistin. Im Jahr 2022 vertrat sie Polen auf der Biennale di Venezia im Rahmen der Ausstellung «Milk of Dreams» und war damit die erste Roma-Künstlerin, die ein Land bei diesem Kunstereignis vertrat. Sie machte 2004 ihren Abschluss an der Akademie der Bildenden Künste Krakau. Sie lebt und arbeitet in Czarna Góra, einem Roma-Dorf am Fusse der Tatra. Als Aktivistin beschäftigte sie sich bereits während ihres Studiums mit der Bildung und Ausbildung junger Roma in Polen. Im Jahr 2007 gründete sie zusammen mit Bogumiła Delimata und Krzysztof Gil die Roma-Kunstbewegung in Polen. Im Jahr 2017 war sie an der Gründung des European Roma Institute for Arts and Culture (ERIAC), einem Roma-Kunstzentrum in Berlin, beteiligt. 2022 war sie an der documenta fifteen in Kassel sowie in der Biennale Venedig (im polnischen Pavillon) vertreten. 2024 stellte sie das Museum Bonnefant in Maastricht vor. Weitere Ausstellungen im Brücke-Museum in Berlin und im Kunsthaus Bregenz.
Kunstmuseum Luzern. Bis 15. Juni 2025