Seit seiner Uraufführung 1841 an der Pariser Oper gilt ‘Giselle’ als der Inbegriff des romantischen Balletts. Doch keine auf der Spitze schwebenden, Tutu tragenden unerlösten Geisterwesen bevölkern die Basler Bühne, sondern quasi barfüssige Bauernmädchen, modisch raffinierte Gesellschaftsdamen und rebellierende Nonnen. Ballettdirektor Richard Wherlock hat Theophil Gautiers Libretto, basierend auf einer literarischen Vorlage Heinrich Heines, völlig umgestaltet.
Seine ‘Giselle’ fusst in der Gegenwart: Sie leidet an Standesunterschieden, erfährt sich als Aussenseiterin in diversen sozialen Strukturen, und beschliesst schliesslich, gezwungenermassen, sich zu emanzipieren und ihre Individualität zu leben. Die treibende Kraft ist, wie so oft, eine unlebbare Liebe.
Die Sennerin muss ins Kloster
Wherlocks ‘Giselle’ lebt als glücklich verlobte Sennerin auf der Alp. Bis eine noble Jagdgesellschaft eintrifft, deren Anführer sie sogleich umwirbt. Giselle, fasziniert und bezaubert, geht auf die Werbung des vornehmen Schönlings ein und sucht, um ihm näher zu sein, sich die Mentaliät seiner Gruppe anzunähern und ihr Verhalten zu imitieren. Doch die Freundin ihres Verehrers wird zur Rivalin. Sie macht Giselles Illusion ein Ende und weist sie energisch aus ihrem Kreis.
Giselle ist verwirrt. Zu den Städter gehört sie nicht. Doch zu den Bauernleuten gehört sie auch nicht mehr. Wohin also ? Ihr Vater bringt sie ins Kloster. Die starken Strukturen sollen ihr Halt geben. Wieder bemüht sie sich redlich die Werte und Formen zu erfassen, sich zu intergrieren, dazu zu gehören. Doch die starren Klosterformen engen sie ein, ersticken sie. Sie muss rebellieren und zieht ihre Mitschwestern in das Aufbegehren mit hinein. Die beengenden Fesseln werden gesprengt und Giselle verlässt das Kloster auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben.
Giselles Vater, Verlobter, ihr Geliebter, die Abtissin, wie auch deren jeweiliges Umfeld definieren sich über ihre Integration in ihr soziales Umfeld. Giselle prägt nun ihr Umfeld durch ihre Individualität.
Umsetzung in heutige Körpersprache
Die Verschiedenheit der Gebräuchen und Mentalitäten von Bauern, Städtern und Religiösen wird im Ballett durch die Choreographierung der Körpersprache spührbar gemacht. Die tolpatschigen, manchmal fast plumpen, hochvitalen Bewegungen der Bauern an bayrischen Schuhplattler erinnernd, machen einen Pas de Deux fast zur akrobatischen Einlage. Die Jagdgesellschaft, hingegen, bei deren Mitgliedern das Erlernen des Gesellschaftstanz zur gepflegten Erziehung gehört, demonstriert routinierte höfische Bewegungseleganz. Gehemmte, marionettenhaften Bewegungen, hingegen, zeigen die Klosterfrauen, eingeschränkt durch die strengen Gebote und auf den engen Radius innerhalb der Klostermauern.
“Eine Umsetzung der Tanzsprache des 19. Jahrhunderts und ihrer Symbolik in die heutige Körpersprache”, so Wherlock, war sein Ziel. Die Ballettkompanie zeigt die Eigenarten der verschiedenen Gruppen mit den Mitteln des modernen Ausdruckstanzes. Dies in reizvoller Spannung zur klassisch romantischen Begleitmusik. Diese wurde von Adolph Charles Adam 1840 komponiert, doch dann - auf ‘Giselle’s Erfolgszug durch die russischen Bühnen-, durch zusätzliche Gruppentänze und Pas de Deux’s angereichert und mit einer schwereren Orchestrierung dem Publikumsgeschmack angepasst.
Der Protest der Scala-Musiker
Die Musiker der Mailänder Scala hatten anlässlich einer Produktion 2004 temperamentvoll protestiert, dass die vorliegende Partitur, mit Einschüben und Streichungen übersät, unlesbar und somit unspielbar sei. Dies wurde zum Anlass genommen die ganze Musik zu überarbeiten. Der Britische Dirigent David Garforth hatte dies anhand des Originalmanuskripts aus der Pariser Bibliotheque Nationale vorgenommen. Die Musik wirkt jetzt ‘entrümpelt’, ist von diversen Zusätzen befreit und wird mit kleinerem Orchester gespielt. Sie klingt leichter, transparenter und graziöser und bietet damit einen reizvollen Gegensatz zu den manchmal etwas klobigen Formen des Ausdrucksballetts.
Der erste Satz, ‘Auf der Alp’, ist Richard Wherlock mit den gruppenspezifisch diversen Körpersprachen, interessanten choreographischen Einfällen, und einer runden inneren Drammaturgie, vollumfänglich gelungen. Im zweiten Akt, ‘Im Kloster’, verwirren Längen, unvermittelt auftauchende neue Gestalten, und vor allem der Schluss: Als Giselle Weihwasser um sich spritzend in einem Spalt der Dekoration verschwindet, ist man sich nicht sicher, ob ihr zukünftiges Leben auch ein erfolgreiches sein wird.
Uraufführung 12.1.; weitere Aufführungsdaten: 21.1.; 24.1.;27.1.;29.1.2011