Die Brigaden hat Ghadhafi jeweils Söhnen oder Schwagern unterstellt - sowie anderen Familienmitgliedern und Anhängern, denen er sein Vertrauen schenkte. Doch die Mannschaften bestehen meistens aus Angehörigen der grossen libyschen Stämme. Ihre Loyalität gilt primär diesen Stämmen und deren Stammesführern.
Armeeüberläufer in der Cyrenaika
In Benghazi sind offenbar Armeeeinheiten auf die Seite der Bevölkerung übergelaufen. Andere haben sich von den Demonstranten entwaffnen lassen, nachdem sie zuerst, gewiss auf Befehl von oben, auf sie geschossen hatten.
Die Auflehnung der Truppen und ihrer direkten Vorgesetzten, der Offiziere unteren Ranges, bedeutete, dass sie sich dem übergeordneten Kommando der Ghadhafi-Söhne und Verwandten entzogen haben. Man hat sich vorzustellen, dass diese Familienmitglieder, verwöhnte und eitle Privilegierte aus der herrschenden Familie, keine beliebten Vorgesetzten waren.
Die Furcht vor dem Regime hielt sie auf ihren Führungspositionen. Im Augenblick, in dem eine der Einheiten begann, sich gegen sie zu erheben, mussten sich die anderen sagen: "Warum sollen eigentlich wir diesen Leuten gehorchen?" Das eiserne Band der Furcht, das das ganze System zusammengehalten hatte, war zerbrochen oder ist im Begriff zu zerbrechen.
Die Stammeschefs setzen sich ab
Ähnlich geht es mit den Stammeschefs. Die Stämme sind das politische Urgestein Libyens. Die grössten von ihnen wie die Zawiya im Osten und die Warfallah im Westen haben bis zu einer Million Mitglieder. Viele der Libyer, auch die Stadtbewohner, identifizieren sich mit ihrem Stamm, und sie hören auf ihre Stammeschefs.
Deshalb hat Ghadhafi sich immer um die Stämme gekümmert. Er versuchte, sie gegeneinander auszuspielen und die wichtigsten auf seiner Seite zu halten. Der Chef der Warfallah hat erklärt, Ghadhafi sei nun nicht mehr sein Bruder, und er solle verschwinden. Er drohte auch in den nächsten 24 Stunden die Pipeline zu unterbechen, die aus der Sahara durch seine Gebiete ans Meer zieht, falls die Schiessereien nicht endeten. Zahlreiche Gottesgelehrte rufen die Truppen auf, nicht auf ihre muslimischen Brüder zu schiessen. Die Tuaregh aus dem Süden in der tiefen Sahara, die eine halbe Million Menschen umfassen sollen, haben sich den Warfallah angeschlossen.
Die Soldaten der verschiedenen Brigaden bestehen immer aus Stammesbrüdern eines oder mehrerer dieser Stämme.
Mehrere libysche Botschafter im Ausland sind von ihren Posten zurückgetreten, um, wie sie erklärten, gegen die blutige Unterdrückung der Bevölkerung zu protestieren. Sie täten dies schwerlich, wenn sie nicht das Ende des Regimes bevorstehen sähen. Auch der bisherige Justizminister ist, wie er mitteilen liess, mit der gleichen Begründung zurückgetreten.
Die Cyrenaika frei vom Regime
Die Cyrenaika ist inzwischen offenbar fast vollständig in den Händen der Volksbewegung. Einige der jungen Demonstranten haben sich mit Waffen aus den Armeebeständen ausgerüstet und versuchen, eine Bürgerwehr zu bilden. In einigen Armee-Stützpunkten sollen noch Truppen ausharren. Andere wurden von den Demonstranten gestürmt.
Die Macht auf der Strasse in Tripolis
In Tripolis gab es ein Hin und Her. Am Sonntag besetzten die Demonstranten den Grünen Platz, der das Zentrum der Hauptstadt bildet. Doch nachdem Saif ul-Islam, der als relativ liberal bekannte zweite Sohn Ghadhafis, am späten Abend eine Fernsehansprache gehalten hatte, in der er die Bevölkerung vor einem Bürgerkrieg warnte und gleichzeitig Reformen versprach, zogen Truppen und bewaffnete Regimeanhänger auf den Platz und vertrieben die Demonstranten mit Schüssen.
Es soll weitere Todesopfer gegeben haben. Die Aktion war offenbar abgestimmt mit der Fernsehrede. Sie sollte gewissermassen ihre Wirkung verstärken. Doch eine Wirkung blieb aus. Die Libyer erklärten, Versprechen hätten sie schon viele gehört. Sie seien unglaubwürdig. In vielen anderen Vierteln der Hauptstadt dauerten die Demonstrationen und Unruhen an. Polizeiposten und das Hauptquartier der von Ghadhafi inspirierten "Volksversammlung" wurden in Brand gesteckt. Gefängnisse wurden aufgebrochen. Die Stadt machte eine wirre Nacht der Schüsse und Unruhen durch.
Die Polizei pflegt unsichtbar zu werden, wenn sie sich der Rückendeckung durch die Armee ungewiss wird. So scheint es auch in Tripolis gewesen zu sein.
Warum noch jetzt gehorchen?
Zur Zeit ist noch ungewiss, ob Ghadhafi sich noch irgendwo mit irgendwelchen bewaffneten Anhängern in einem oder dem anderen seiner grossen Armeelager zu halten vermag - und auf wie lange Zeit noch.
Doch es ist sichtbar geworden, dass seine Macht dahinschmilzt. Wenn man dies sogar im Ausland feststellen kann, obwohl alle Informationen nach Möglichkeit unterbunden wurden, dürfte es den Libyern längst deutlich geworden sein. Dies ist entscheidend. Die Libyer beeilen sich nun, Ghadhafi und seinen Söhnen, den Gehorsam zu verweigern. Wenn sie nicht mehr zu gehorchen gezwungen sind, warum sollen sie es dann tun?