Andrew Sullivan ist ein renommierter Publizist in den USA, der sich vor allem einen Namen mit seinen oft anstössigen libertären Meinungen gemacht hat; schwer einzuordnen, bekennender Schwuler, HIV-positiv, wirtschaftsliberal, für die Freigabe von Marihuana und Schwangerschaftabbruch, gegen falsche Toleranz im Namen von Multikulturalismus, scharfer Kritiker des islamischen als auch christlichen Fundamentalismus, kurz: Exemplar einer alerten, intelligenten, mutigen, vom Verschwinden bedrohten Spezies. Vor allem aber ist Sullivan ein Pionier der Blogospäre. „The Daily Dish“ ist eines der populärsten Blogs im englischsprachigen Raum. Sullivan betreibt es seit 2000. Nun gibt er auf.
Sehnsucht nach der wirklichen Welt
„Warum? Zwei Gründe. Den ersten können, so hoffe ich, alle verstehen: Obwohl es die dankbarste Erfahrung in meiner Karriere als Autor gewesen ist, so habe ich nun doch fünfzehn Jahre lang täglich geradlinige Blogs geschrieben (..) Das ist für einen einzigen Job lange genug; und das ist in gewissem Sinn der simple Grund. Eine Zeit kommt, wo du dich neuen Dingen zuwenden, dich wachrütteln oder deinen Zusammenbruch bemerken musst, bevor das Burnout einsetzt.
Der zweite Grund: ich habe das digitale Leben satt, und ich will in die wirkliche Welt zurückkehren. Ich bin ein Mensch, bevor ich ein Schriftsteller bin; und ich bin Schriftsteller vor dem Blogger, und obwohl es eine Freude und ein Privileg war, Pionierarbeit in einer neuen genuinen Form des Schreibens zu leisten, sehne ich mich nach anderen, älteren Formen. Ich will wieder lesen, langsam, sorgfältig. Ich will ein schwieriges Buch zu mir nehmen und eine Zeitlang in meinen eigenen Gedanken darüber herumwandern. Ich will eine Idee haben und sie allmählich Gestalt annehmen lassen, statt sie augenblicklich zu bloggen. Ich will lange Essays schreiben, die tiefer und subtiler viele Fragen beantworten, welche „The Dish“ mir vorgetragen hat. Ich will ein Buch schreiben. Ich will Zeit mit meinen Eltern verbringen, während ich sie noch habe, mit meinem Ehemann, der allzu oft eine ‚Blog-Witwe’ ist, mit Schwester und Bruder, Nichten und Neffen, Freundschaften wiederaufleben lassen, die liegen geblieben sind, weil ich ständig an den Blog gebunden war. Und ich will gesund bleiben. Ich hatte zunehmend Probleme in den letzten paar Jahren. Sie haben nichts mit HIV zu tun; mein Arzt sagt, sie seien einfach das Resultat von fünfzehn Jahren täglichem, stündlichem Deadline-Stress. Die letzten Wochen waren besonders hart – und sie zwangen mich schliesslich auf die Welt zu kommen (get real).“
Rückkehr zur Materialität
Get real – ein wunderbares Motto. Vor allem in einem Zeitalter, das die Grenzen zwischen real und virtuell zunehmend verwischt. Seit einiger Zeit schon scheint eine Art von digitalem Austeritätsdiskurs Platz zu greifen. Offenbar gewinnt das Leben offline gerade in Online-Foren an besonderer Bedeutung und Würde - vor dem Hintergrund eines „digitalen Dualismus“, wie ihn der Mediensoziologe Nathan Jurgenson nennt: falsches, krankes, unnatürliches Leben im Netz versus wahres, gesundes, natürliches Leben ausserhalb. Praktiken wie Wandern, Biken, Campen erfreuen sich allgemeiner alter Beliebtheit; das Sammeln von Vinylplatten, alten Kameras und sonstigem Retrozeugs scheint cool zu werden, überhaupt „feiert Materialität ein Comeback“, wie dies kürzlich Genevieve Bell, eine Kundenforscherin bei Microsoft, formulierte.
Man sollte freilich Sullivans Abschied vom Bloggertum weder als Fanal symbolisch überfrachten noch voreilige generelle Schlüsse daraus ziehen – im Sinne etwa einer „reuigen Rückkehr zum Unplugged“. Aber „Get real“ könnte dennoch als alltägliches Memento nützlich sein, das in der ganzen Fahrhabe der Geräte, mit denen wir – wozu eigentlich? – herumfuhrwerken, immer noch die alte Karosserie unseres Körpers ihre recht guten Dienste leistet. Vor allem aber macht sie uns darauf aufmerksam, dass wir nicht auf die Welt zu kommen brauchen, sondern schon auf der Welt sind. - Eine Erfahrung von der Wucht einer Offenbarung.