Beim Concours de Genève klingt vieles fremd, ungewohnt und gleichzeitig verführerisch.
Das muss schon ein eigenartiges Gefühl sein, an einem Kompositions-Wettbewerb teilzunehmen, es bis ins Finale zu schaffen und dann bei dieser Gelegenheit das eigene Stück tatsächlich zum ersten Mal zu hören!
Genau diese Erfahrung hat nun Shin Kim in Genf gemacht, wo der Südkoreaner den Concours de Genève für Komposition gewonnen hat.
Wer teilnehmen wollte, musste ein Stück einreichen, das 15 bis 20 Minuten lang und für ein sechsköpfiges Vokalensemble (Bass, Bariton, Tenor, Mezzosopran, Sopran, Koloratur-Sopran) geschrieben ist.
97 Nachwuchs-Komponisten und -Komponistinnen aus 37 Ländern hatten sich angemeldet und ihre Partitur eingeschickt. Eine Fach-Jury unter der Leitung des Schweizer Musikers und Komponisten Beat Furrer hat dann in mehreren Auswahl-Verfahren die drei Finalisten ausgewählt, die schliesslich persönlich in Genf antraten.
Von der Theorie zur Praxis
Wochenlang haben die Nachwuchs-Komponisten an ihren Werken gearbeitet, getüftelt, geändert, gelöscht, umgeschrieben, neu angefangen und vielleicht auch immer ein bisschen gezweifelt. Denn vor sich hatten sie nur die Notenblätter und im Kopf die Vorstellung, wie es klingen könnte, wenn ein Gesangsensemble die musikalischen Theorien in klingende Realität umsetzt.
«Ja, es war ziemlich schwierig», bestätigt Kim. «‘Normal’ ist es ja, für Instrumente zu komponieren. Ich musste über vieles nachdenken. Also wie es für das Publikum klingt und wie ich mit diesen sechs Stimmen umgehen muss. Aber es hat auch Spass gemacht.» Und dann endlich sass er im Konzertsaal des Conservatoire in Genf und erlebte, wie aus seinen Noten auf Papier der Klang in den Raum strömte. «Manchmal war es sogar besser, als ich es mir vorgestellt hatte», sagt er. «Es war ein sehr spezielles Erlebnis». Aufgeführt wurde es vom renommierten Ensemble «Neue Vocalsolisten Stuttgart», die sich auf zeitgenössische Musik spezialisiert haben. Und das klingt nicht wie Wunschkonzert … Da wird gesummt, gesungen, geschnalzt, geraunt, geschnippt, geklatscht und geklappert, und es ergibt tatsächlich so etwas wie eine Melodie.
Verschiedenste Noten-Zeichen
Und wie bringt man so etwas überhaupt zu Papier, frage ich Kim. «Nur mit normalen Noten kann man das nicht vermitteln», antwortet er. «Ich habe sehr verschiedene Zeichen verwendet. Nur schon, um auch die jeweilige Distanz zum Mikrophon festzuhalten.» Einen Monat hat er an der Partitur gearbeitet, aber die ersten Gedanken zum Stück hat er sich schon vor einem Jahr gemacht.
Um Träume geht es in diesem Stück. «Ich habe versucht, sie zu behandeln wie Geschichten, die man Kindern vor dem Einschlafen erzählt.» Die Töne werden ruhig, die Vokale nasal, der Klang leicht wogend.
Am nächsten Morgen reist er bereits zurück nach London, wo er zurzeit studiert. Musik-Professor möchte er eines Tages werden. «Aber zuerst muss ich ein guter Komponist werden und auch mein Studium abschliessen», sagt er. Gibt es auch Komponisten, die ihn besonders inspirieren? «Ja, viele, aber ganz besonders Krzysztof Penderecki. Seine Musik hat so viel Dramatik. Ich bin ein grosser Fan von ihm.»
Kriterien für die Beurteilung
Alle zwei Jahre findet im Rahmen des Concours de Genève – neben Instrumentalisten – ein Kompositions-Wettbewerb statt. Man kann sich durchaus fragen: Wie begutachtet man verschiedene Kompositionen, was ist gut, was ist banal, was ist preiswürdig – und was nicht? So richtig messbar ist das ja nicht. Und wie vergleicht man dann eine Komposition mit der anderen?
«Es gibt ein paar Kriterien», sagt Beat Furrer, Leiter der Fachjury. «Beurteilt wird, ob sich in der Partitur offenbart, dass sie Persönlichkeit repräsentiert. Das klingt utopisch, aber es ist abhängig von einer gewissen Originalität, die zum Ausdruck kommt, aber immer auch in Verbindung mit handwerklichem Können, also dass man Klang in Noten festhalten kann, und dass man sich diesen Klang klar vorstellen kann. Es geht also nicht nur um die Kreativität an sich, sondern auch darum, das Akademische in der Musik zu beherrschen. Kontrapunkt und Harmonielehre müssen im Hintergrund vorhanden sein.»
Fast alles ist möglich
Heute ist allerdings in der Neuen Musik fast alles möglich und erlaubt. Ist da die Beurteilung einer Komposition nicht einfach auch Geschmackssache? «Nicht nur», entgegnet Beat Furrer und holt zu einem kleinen Vortrag aus. «In der Kunst gibt es kaum mehr Tabus, die man verletzen kann wie anfangs des 20. Jahrhunderts. Aber es gibt immer noch die Kriterien der Qualität und ob ein Werk in Bezug steht zu einem historischen Bewusstsein. Ich betrachte Musik als einen Raum, der sich immer mehr erweitert. Wenn ich als Kind in diesen Raum eintrete, dann gefällt mit Schubert, da gefällt mir Mozart und dieses und jenes. Dann kommt Strawinsky hinzu und der Raum erweitert sich mehr und mehr, bis es irgendwo eine Grenze gibt, an der ich sage: das ist jetzt keine Musik mehr. Das ist Beliebigkeit. Aber selbst in meinem Bewusstsein – das inzwischen schon ein älteres ist …– verändert sich dieser Raum immer noch. Ich weiss, dass ich früher manches abgelehnt habe, was ich heute durchaus estimiere. Ich sehe, hier artikuliert sich etwas ganz Eigenständiges.»
Beurteilt wurden die Partituren von der Jury. Wie es dann genau klingt, haben auch die Fachleute erst beim Konzert gehört. Dann wurde der endgültige Entscheid gefällt. «Ich glaube, dass Qualität sich immer artikuliert», sagt Furrer. Und Shin Kim aus Korea gewann den Concours.
Mindestens ein Drittel bis fast die Hälfte der Wettbewerbsteilnehmer stammt aus Asien, aus Korea, China und Japan vor allem. Beeinflusst das auch die Neue Musik? «Die europäische Kultur ist immer von Asien beeinflusst worden», sagt Furrer. «Heute aber viel stärker. Diese jungen Leute aus Asien sind sehr gut ausgebildet. Vielleicht ist es der Musikunterricht in diesen Ländern, der diese Qualität überhaupt erst ermöglicht.» Etwas resigniert fügt Furrer dann noch bei: «Im Gegensatz zu uns, also in Österreich oder in der Schweiz …»
Einer der wichtigsten Musik-Wettbewerbe
Den Concours de Genève gibt es mittlerweile seit 83 Jahren und er gehört zu den wichtigsten internationalen Musikwettbewerben. Generalsekretär ist seit 1999 Didier Schnorhk, ein Walliser. Mit Stolz kann er mittlerweile auf eine lange Liste von Wettbewerbs-Gewinnern zurückschauen, die sich wie ein Who-is-who der besten Klassikstars liest. «Der erste Gewinner war 1939 der Pianist Arturo Benedetti Michelangeli. Er ist sozusagen über Nacht zu einer Klavier-Legende geworden», sagt Schnorhk. «Es folgten Maria Stader, Georg Solti, Friedrich Gulda, Maurice André, Martha Argerich, Maurizio Pollini, Heinz Holliger, Tabea Zimmermann, Annette Dasch und und und … In praktisch allen Disziplinen haben wir Preisträger, die Karriere gemacht haben.»
Natürlich hat sich während dieser langen Zeit einiges geändert am Concours. «Die Qualität ist höher als noch vor zehn Jahren», sagt Schnorhk. «Heute spielen alle auf höchstem Niveau. Beim Pianowettbewerb bekommen wir zur Anmeldung etwa 200 Videos von jungen Pianisten und Pianistinnen. Alle spielen perfekt. Kein falscher Ton. Und sie spielen oft schwierige Stücke. Aber um schliesslich Erfolg zu haben, braucht es die Originalität des Einzelnen, die persönliche Interpretation. Gut Klavier spielen, das genügt heute nicht mehr.»
Betreuung nach dem Wettbewerb
Und im Wettbewerb einfach einen Musiker gegen den oder die andere antreten zu lassen, das genügt heute auch nicht mehr. Die Gewinner werden auch nach dem Concours noch weiter betreut. «Das habe ich vor etwa zwanzig Jahren ganz bescheiden eingeführt», sagt Schnorhk. «Zwei bis drei Jahre dauert das, manchmal auch länger. Wir sorgen für Konzerte, aber die persönliche Betreuung ist das Wichtigste. Wir helfen, eine Karriere aufzubauen, aber nicht jeder hat Lust, sein Leben lang Konzerte zu geben, manche wollen Lehrer werden. Jeder träumt von etwas anderem und wir bemühen uns, ihnen bei der Realisierung ihrer Träume zu helfen. Wir haben auch ein Workshop-Programm, in dem es weniger um Musik, als um Kommunikation, Soziales, Business, Rechtliches und insbesondere auch um Gesundheit geht, wenn man viel herumreist, von einem Hotel ins andere, spät ins Bett kommt, schlecht schläft, zu viel trinkt, zu viel isst … diese Workshops sind neu, aber sehr wichtig und sie kommen gut an.»
Dieses Jahr hat der Concours für Komposition und für Piano stattgefunden. Nach dem Sieger für Komposition steht inzwischen auch der Gewinner des Piano-Wettbewerbes fest. Es ist der 17-jährige Kevin Chen aus Kanada, der gleich noch vier weitere Preise bekommen hat. Trotz seines noch jungen Alters hat er bereits mehrere internationale Wettbewerbe für sich entscheiden können. Einer Karriere steht also nichts mehr im Wege …
Nächstes Jahr stehen Flöte und Streichquartette im Wettbewerb.