Jedenfalls äussert sich darin ein geplagter oder erfreuter Einzelmensch über die ihn im Augenblick quälenden oder befeuernden Gefühle. Wenn eine Oper jedoch bereits im Titel die Bezeichnung „Dialoge“ trägt, vermuten wir zu Recht, dass es hier nicht in erster Linie um die Empfindungen eines Individuums geht, sondern eher um das, was zwei Menschen einander zu sagen haben und wie dies ihnen gelingen oder missraten mag.
Traditionell würde man dies als ein „Duett“ bezeichnen, unter der Bedingung freilich, dass beide Personen auch wenigstens gewisse Teile davon gemeinsam singen. Tun sie dies nicht, sondern stellen dem Gegenüber prüfende Fragen oder belasten nur die Partnerin mit Zumutungen und Forderungen, macht es durchaus Sinn, von musikalischen „Dialogen“ zu sprechen. Zu den eindrücklichsten dieser Gattung gehören jene, die Francis Poulenc 1957 nach einem Text von Georges Bernanos (1888-1949) als „Dialogues des Carmélites“ auf die Opernbühne gebracht hat.
Langer Weg zur Oper
Der Text von Bernanos hat eine interessante Vorgeschichte. 1931 schrieb die deutsche Schriftstellerin Gertrud von Le Fort eine Novelle mit dem Titel „Die letzte am Schafott“, in der sie den Bericht der Überlebenden jener 16 Karmeliterinnen von Compiègne verwendete, welche im Juli 1794, 10 Tage vor dem Sturz Robespierres, in Paris öffentlich guillotiniert wurden. Bernanos wollte ursprünglich die Novelle als Vorlage für ein Filmdrehbuch verwenden, es wurde daraus zunächst aber ein Theatertext.
Die Uraufführung der von Bernanos gestalteten Szenen fand 1951 in deutscher Sprache am Zürcher Schauspielhaus unter dem Titel „Die begnadete Angst“ statt, ein Jahr vor der Erstaufführung des französischen Originals. Im Jahr 1953 empfahl der Mailänder Musikverleger Ricordi dem Komponisten Francis Poulenc (1899-1963), das Werk als Vorlage für eine neue Oper zu verwenden. Poulenc hatte das Bernanos-Stück zwei Mal auf der Bühne gesehen und machte sich schnell daran, den Text für ein Opernprojekt kürzend und straffend zu bearbeiten.
Im Januar 1957 war es soweit: Die Oper wurde an der Mailänder Scala in italienischer Sprache unter der Leitung von Nino Sanzogno uraufgeführt. Noch im gleichen Jahr hatte die französische Originalfassung unter Pierre Dervaux in Paris Premiere, und diese Produktion mit namhaften Solistinnen wurde im Jahr darauf auch bei der Firma EMI auf Schallplatte festgehalten. Damit begann der Siegeszug von Poulencs Oper. Heute gehört sie zum Repertoire aller bedeutenden Opernhäuser der Welt.
Die Opfer der Revolution
Das Werk in 3 Akten und 12 Bildern erzählt die Geschichte der jungen Aristokratin Blanche de La Force, die aus Angst vor dem Leben und den Herausforderungen der Zeit sich in das Karmeliterinnenkloster von Compiègne zurückzieht. Aber auch das Kloster ist kein Schutzort, weder vor der inneren Angst, im Leben zu versagen, noch vor den Gefahren der wie ein Wirbelsturm heranziehenden Revolution. Die Ängste und die Lebensnot, welche „Soeur Blanche de l’Agonie du Christ“ – so ihr Name als Klosterfrau – heimsuchen, sind von vielfältigster Art. Das Werk ist geradezu eine Phänomenologie der Erscheinungsformen von Ängsten und Zweifeln und deren Steigerungsform Verzweiflung. Diese setzen jedem Menschen zu, und in besonderer Weise demjenigen, der auf der Suche nach Gott und dem inneren Frieden ist.
So erleben wir beispielsweise in dieser Oper den Todeskampf der alten Priorin Mme. de Croissy, deren letzte Lebensstunden nicht von der Seelenruhe und heiteren Gelassenheit einer frommen Nonne geprägt sind, die vielmehr in einem Delirium der Verzweiflung und der Gottverlassenheit aus dieser Welt scheidet. Wir erfahren, wie die Revolution die alten Ordnungen wegfegt und gerade vor Klostermauern nicht Halt macht. Der Hauskaplan und die Nonnen werden vertrieben, die Kirche profaniert, die Nonnen verlieren ihre Bleibe wie ihre Tracht. Die Schlussszene schildert, wie die 16 Karmeliterinnen, die sich verbotenerweise zum Gebet treffen, eine nach der anderen - das „Salve Regina“ singend - den Gang zur Guillotine antreten. Die Musik macht mit brutalen Schlägen hörbar, wie das Fallbeil jeder von ihnen den Kopf vom Leib trennt.
Bruder und Schwester
Der hier ausgewählte Dialog schildert die Begegnung zwischen Blanche und ihrem Bruder, dem Chevalier, der die kleine ängstliche Schwester, die er „mein kleines Häschen“ nannte, im Kloster besucht, um sie dazu zu bewegen, das Kloster zu verlassen und zu ihrem alten Vater in den Familienpalast zurückzukehren. Die Gefahren der Revolution für Angehörige des Adels erkennend ist der Chevalier dabei, das Land zu verlassen und ins Exil zu gehen. Später wird Blanche die Klostergemeinschaft tatsächlich verlassen, um im geplünderten und zerstörten Familienpalast zu erfahren, dass ihr Vater als Angehöriger des Adels von den Jakobinern hingerichtet wurde.
Poulenc hat in dieser Oper raffiniert Leitmotive eingebaut, welche in den unterschiedlichen Dialogen nicht nur die Angst zu leben und zu sterben, sondern ebenso Opferbereitschaft, Gnade, Heilserwartung, Hoffnung und Entschlusskraft angesichts des Unausweichlichen als Klänge und Rhythmen erleben lassen. Auch diese Begegnung zwischen Bruder und Schwester – der eine von irdischen Sorgen getrieben, die andere vom geistlichen Ehrgeiz, nur Gott dienen zu wollen - ist durchpulst von Zuneigung und Kindheitsglück einerseits, von Stolz und Härte des je eigenen Willens andererseits. Wie können Geschwister, die sich in der Kindheit zärtlich nahe waren, durch die Umstände der Zeit, aber auch durch den Willen zu einem anderen Lebensweg einander so unverständlich und hart erscheinen?
Das noch unvertraute Glück der Freiheit
Keiner will dem anderen Kummer bereiten. Blanche ist überzeugt, ihre „Härte“ sei nur „manque d’habitude et maladresse – Mangel an Übung und Ungeschick“. Mit ihrer Entscheidung, ins Kloster zu gehen, will sie auf ihre Weise den Kampf gegen die Daseinsängste aufnehmen. „Wir kämpfen beide, jeder auf seine Art“, hält Blanche ihrem Bruder entgegen. Er solle sie nicht länger als seinen schutzlosen kleinen Hasen aus der Kindheit ansehen, sondern für ihre Entscheidung nur jene Achtung haben, die er für seine Bekannten und Freunde aufbringe.
Der Abschied der beiden ist in ein seltsames Zwielicht des einander Liebens und Verletzens getaucht. Die Schwester spürt – wie sie selbst sagt – „nichts als Herzlichkeit und Sanftmut“ in ihrer Seele. Dem Bruder fällt es schwer, in diesem Weg der Entsagung und des neuen Lebensverständnisses von Blanche, nichts als eine kleine Dienerin Gottes sein zu wollen, auch eine Form des Kampfes für die eigene Freiheit sehen zu wollen. Ihr Weg sei nicht weniger von Gefahren und Risiken bedroht als der Seinige, hält Blanche dem Bruder entgegen. In der Regieanweisung schreibt Bernanos: „Der Chevalier bedenkt Blanche mit einem langen vielsagenden Blick und geht hinaus. Blanche hält sich am Gitter fest, um nicht umzusinken.“
In der Schlussszene der Oper wird Blanche, welche die Gemeinschaft der Schwestern von Compiègne inzwischen verlassen hat, aus der anonymen gaffenden Menge heraustreten und sich mutig und entschlossen ihren aufs Schafott steigenden Mitschwestern wieder anschliessen. Es ist ihre Stimme, die wir hören, bevor das Beil zum letzten Mal fällt und die Volksmenge stumm auseinandergeht.
Dialogues des Carmélites - Duo Blanche et Chevalier de la Force