Bangladesch hat sich innert fünfzig Jahren von extremer Armut ins globale Mittelfeld hochgearbeitet. Ein Muster gelungener Entwicklung? Wirtschaftlich ja, politisch jedoch nicht. Ein neues Buch von René Holenstein gibt differenzierte Einblicke in das junge Land.
René Holenstein, zwischen 2017 und 2020 Botschafter der Schweiz in Dhaka, hat ein interessantes und einfühlsames Buch über Bangladesch geschrieben. Es gibt Aufschluss über den Weg, den das Land in den letzten fünfzig Jahren zurückgelegt hat: von einem der ärmsten Staaten der Welt zu einem, der an der Schwelle zu einem «Middle-Income Country» steht.
Dieser Erfolgsweg ist wesentlich der klugen Wirtschaftspolitik in den neunziger Jahren zu verdanken, als Bangladesch mit seiner Tieflohnpolitik im Textilsektor den Ball von China aufnahm, das damals auf eine kapitalintensivere Fertigungsstufe umstieg.
Entscheidende Rolle der NGOs
Dies wäre allerdings nicht möglich gewesen, hätte das Land nicht schon früh eine progressive Sozialpolitik für die grosse Masse der ländlichen Bevölkerung initiiert. Der Treiber dieser Entwicklung war nicht der Staat. Federführend waren kooperative Wohlfahrtsorganisationen, die schon bald zu den grössten und angesehensten NGOs weltweit gehörten. Sie legten ihre Schwerpunkte auf Landrechte, Schulbildung für Mädchen und lokale Selbstbeschäftigung der Frauen. Es sind Frauen, die heute das personelle Rückgrat der erfolgreichen Textilindustrie bilden.
Es ist daher verständlich, dass Holenstein – er leitete auch die Vertretung der schweizerischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) im Land – die Entwicklung der Zivilgesellschaft ins Zentrum seines Buchs stellt. Er tut dies, indem er einer Reihe von deren Exponenten – Frauenrechtlerinnen, Anwälte, Professoren, Journalisten, NGO-Vertreter – jeweils ein Kapitel einräumt, in dem diese direkt zu Wort kommen. Dies hat auch den Vorteil, dass der Blick von innen dominiert, statt wie so oft jener eines ausländischen Beobachters.
Der publizistische Schwerpunkt auf der Zivilgesellschaft kann einerseits als Beweis einer wachen und kritischen Demokratie gelesen werden; und dass sie hier offen zu Wort kommen kann, rechtfertigt diese Bezeichnung. Die Gespräche machen allerdings rasch klar, dass Bangladesch alles andere als ein Musterstaat ist.
Autokratische Verkrustungen
Hinter der demokratischen Fassade hat sich eine politische Elite herausgebildet, die das Land immer stärker autokratisch verkrusten lässt. Die politische Opposition ist praktisch aufgerieben worden, die mediale Meinungsäusserung – seien es Print/TV-Medien oder die Sozialen Medien – wird immer mehr beschnitten, der Sicherheitsapparat hat grosse Willkürgewalt. Die erfolgreichen (Textil-) Unternehmer haben den Staat kooptiert und kandidieren für Parlamentssitze der herrschenden Awami-Liga; die Korruption ist endemisch.
Holenstein lässt diese Realität zu Wort kommen. Er tut dies so schonungslos, dass man sich über den Titel des Buchs wundert, der genau das Klischee des «gldenen Bengalen» wiederholt, das er im Text verwirft. Er könnte sich auch dem Vorwurf der Einseitigkeit aussetzen, denn es fehlen Stimmen staatlicher und privatwirtschaftlicher Akteure. Auch wenn diese die Realität vermutlich schönreden würden, hätte eine grössere Perspektivenvielfalt dem Buch gutgetan. Zudem führen die Gespräche, die allesamt die Zersetzung der bangalischen Demokratie thematisieren, oft zu Wiederholungen.
Der etwas einseitige Blickwinkel hinterlässt auch wichtige Lücken. Die Aussenpolitik, namentlich jene mit dem Nachbarn Indien, kommt zu kurz, gerade angesichts der eng verzahnten Geschichte und Geografie beider Länder. Das beginnt mit der Marginalisierung der Rolle Indiens bei der Entstehung des Landes (Pakistan entfesselte den Krieg im Dezember 1971 an der indischen Westgrenze, nicht in Bengalen).
Die Migration aus dem bevölkerungsstarken bangalischen Schwemmland in die Hügelgebiete der nordöstlichen Stammesstaaten ist ein Brennpunkt der indischen Politik und ein wichtiger Grund für die chauvinistische Religionspolitik der Regierung. Wie in anderen Ländern Südasiens spielt auch Bangladesch die chinesische Karte aus, allerdings viel umsichtiger als Pakistan, Sri Lanka und Myanmar. Dennoch ist Holenstein ein aufschlussreiches Buch gelungen, das zudem mit einem sorgfältig gestalteten Apparat ausgestattet ist.
René Holenstein: Mein Goldenes Bengalen – Gespräche in Bangladesch. Chronos-Verlag, Zürich 2021