An diesem Wochenende feiert Bangladesch seinen 50. Geburtstag, und dies mit einigem Stolz. Aus dem internationalen «Basket case» ist ein recht erfolgreiches Land geworden, sowohl sozialpolitisch wie wirtschaftlich.
Die Spaltung Indiens in zwei Staaten entlang religiöser Grenzlinien im Jahr 1947 war ein «historischer Irrtum», sagte der indische Verteidigungsminister Rajnath Singh am letzten Wochenende. Er machte seine Bemerkung bei der Eröffnung einer Ausstellung, die an den indisch-pakistanischen Krieg im Jahr 1971 erinnern soll. Nichts habe dies deutlicher gezeigt als dieser Krieg, der vor genau fünfzig Jahren stattfand und den neuen Staat Bangladesch gebar.
Die Bevölkerung des damaligen Teilstaats Ostpakistan war in ihrer überwältigenden Mehrheit muslimisch, was die britische Kolonialmacht 1947 als Begründung anführte, um zwei Regionen im Osten und Westen ihres Kronjuwels zu einem Staat zu verschmelzen, mit einem Graben von 2200 Kilometern dazwischen. Es war jedoch die bengalische Ethnizität, die sich als der stärkere gesellschaftliche Kitt erwies als der Islam. Die Unterdrückung jeder kulturellen Ausdrucksform der bengalischen Eigenart durch Westpakistan – namentlich der Sprache – zementierte diese Identität.
Nur Monate nachdem die bengalische Awami Liga die Mehrheit im gesamtpakistanischen Parlament errungen hatte, begann eine Säuberungswelle gegen die Partei und ihre Anhänger. Schon zuvor hatte die Militärführung versucht, einen Keil zwischen die Bengalen hinduistischen und islamischen Glaubens zu treiben, indem sie offen Jagd auf die Minderheit machte. Die Kampagne nahm genozid-ähnliche Ausmasse an und führte zu einem Exodus nach Indien. Knapp zehn Millionen Flüchtlinge boten Premerministerin Indira Gandhi die Handhabe, sich auf eine militärische Invasion vorzubereiten.
Der verhüllte Taj Mahal
Doch es war Pakistan, das mit Luftangriffen an Indiens Westgrenze den Casus Belli schuf. Den Grund dafür erfuhr ich in der zweiten Woche des Krieges. Meine Schwester und ich waren in Varanasi vom Kriegsausbruch überrascht worden. Ausser BBC-Nachrichten und Banner-Überschriften in den Zeitungen spürten wir Touristen wenig davon. Varanasi ist Indiens Ewige Stadt, und auch wir liessen uns vom träg fliessenden Ganges und dem Gebetsgemurmel der badenden Hindus einlullen.
Im Bahnhof der Stadt war das Gedränge dann aber gross. Viele Pilger wollten nach Hause – und wir auch. Wir fanden Platz in einem Zug nach Delhi, erwachten dann allerdings auf einem Abstellgleis im Bahnhof von Tundla, einem Eisenbahnknotenpunkt in der Nähe von Agra. Unser Zug wurde von der Armee requiriert, und wir mussten im Bahnhof auf einen Ersatzzug aus Bombay warten, der erst für den nächsten Tag angekündigt war.
Wir nutzten die Gelegenheit, den Taj Mahal zu besuchen. Als wir durch das Gitter des verschlossenen Eingangs schauten, erblickten wir ein Gebäude, das mit Sacktuch überzogen war, statt in seinem hellen Marmor zu leuchten. Ein arbeitsloser Fremdenführer erklärte uns den Grund: Agra sei ein wichtiger Luftwaffenstützpunkt. Im Mondschein sei der Bau von feindlichen Flugzeugen aus 350 Kilometern Distanz von Auge zu sehen – ein idealer Orientierungspunkt, um Kurs auf die Luftwaffenbasis zu nehmen.
Mujibur Rahmans Triumph
Indien war also vorbereitet gewesen, als Pakistan mit einem Überraschungsangriff versuchte, grosse Teile der indischen Luftwaffe am Boden auszuschalten, bevor der Landkrieg im Osten richtig losging. Es zeigte sich im Gegenteil, dass die indischen Streitkräfte besser auf einen Militärschlag vorbereitet waren. Innert zwei Wochen war Pakistan besiegt. Selbst das Auftauchen der Siebten US-Flotte in der Bucht von Bengalen – eine Drohgebärde Henry Kissingers – konnte die bedingungslose Kapitulation der pakistanischen Ost-Armee nicht mehr verhindern. Mujibur Rahman kehrte im Triumph aus seinem kurzfristigen Exil in Westbengalen nach Dhaka zurück.
Das neue Bangladesch konnte neben einem nationalistischen Hochgefühl – und Millionen von traumatisierten Menschen – wenig in den Aufbau eines neuen Staats investieren. Die Kassen waren leer, die Infrastruktur war schwer mitgenommen, Ernten grossflächig vernichtet. Das Land war, in den zynischen Worten Kissingers, «ein Fall für den Papierkorb». Während Jahrzehnten war Bangladesch gleichbedeutend mit Hunger und Flutkatastrophen – aber auch, nach der frühen Ermordung Rahmans und dem ersten von drei Militärregimen, für politisches Chaos.
Basisdemokratische Mobilisierung
Doch im Unterschied zu Pakistan vermochten die bangalischen Offiziers-Cliquen aus dem politischen Durcheinander und der grassierenden Armut kein politisches Kapital zu schlagen. Auch ihr Versuch, die Legitimation der Militärs mithilfe islamischer Gesetze und einer «gelenkten» Demokratie zu stärken, misslang.
Die basisdemokratische Mobilisierung des Unabhängigkeitskampfs erwies sich als die stärkere Kraft. Davon profitierte wesentlich auch die Awami Liga als wichtigste politische Kraft unter Sheikh Hasina Wajed, der Tochter des Staatsgründers Mujibur Rahman, die für das Nebeneinander von Säkularismus und Islam einstand. Ihre antipakistanische Einstellung machte sie auch für die «Bruder-Nation» Indien zum bevorzugten Gesprächspartner.
Neben der Nachwirkung der demokratischen Grundströmung gab es noch eine zweite Mobilisierung, die paradoxerweise durch die Widerwärtigkeiten von Armut und Naturkatastrophen – und durch einen hilflosen Staat – ausgelöst wurde: NGOs wuchsen zu starken zivilgesellschaftlichen Organisationen heran. Mit landesweiten Bildungs- und Gesundheitsprogrammen, Kleinsparbanken und einem beispiellosen Fokus auf die zentrale Rolle von Frauen wurden Organisationen wie BRAC und Grameen fast zu einem Staat im Staat. Ihre landesweite Präsenz zwang die Regierung, ihre sozialpolitischen Versprechen einzulösen.
Industrieller Take-off
So wurde ein fruchtbares, aber krisenanfälliges und übervölkertes Schwemmland mit seiner landwirtschaftlichen Produktion zum entscheidenden Faktor zur Kapitalbildung für einen industriellen Take-off. Dass in Bangladesch fast über Nacht ein Industrie-Sektor entstehen konnte, verdankt es wesentlich den jahrzehntelangen Sozialinvestitionen, namentlich für die Frauen. Es waren die Einschulung der Mädchen und die finanzielle Ermächtigung von Kleinsparerinnen, die es dem Land erlaubten, eine Generation von Industriearbeiterinnen heranzubilden. Heute gehört Bangladesch weltweit zu den führenden Exporteuren von Kleiderwaren.
Der Anteil der Frauen in der Industrie ist von 3 Prozent (1971) auf 40 Prozent gestiegen – fast doppelt so viel wie Indien aufweist. Im jüngsten Gender Gap Report des WEF nimmt Bangladesch Rang 65 von insgesamt 158 Staaten ein; alle anderen Länder in Südasien rangieren auf Rängen über 100.
Dieselben Mechanismen wirken auch in der ländlichen Produktion, die weiterhin der wichtigste Wirtschaftszweig ist. Bangladesch ist weltweit der drittgrösste Exporteur von Fischereiprodukten, der drittgrösste Produzent von Reis, Gemüse und Leder und der weltweit führende Hersteller von Jute.
Demokratisch legitimierte Despotin
Trotz dieser Fortschritte ist das Land mit seinen 2500 US-$ Pro-Kopf-Einkommen immer noch arm. Dazu kommt eine sich immer weiter öffnende Schere der Ungleichheit, wie in allen marktwirtschaftlich organisierten Staaten der armen (und reichen) Welt. Die reichsten zehn Prozent seiner Bürger beanspruchen 43 Prozent der nationalen Wertschöpfung; fünfzig Prozent müssen sich mit 17 Prozent begnügen.
Diese Gräben sorgen für politische Spannungen und haben einen zunehmend autoritären Reflex des Staats ausgelöst. Dies gilt umso mehr, als die Absenz einer ebenbürtigen parteipolitischen Opposition zur herrschenden Awami-Liga dieses selbstherrliche Verhalten fördert, mit Sheikh Hasina als einer demokratisch legitimierten Despotin. Die Folge ist neben einer Verengung bürgerlicher Freiheiten eine Ausbreitung des Crony Capitalism, in dem das Zurechtbiegen von Regeln und Normen mit Parteispenden und Günstlingswirtschaft erkauft wird. Solche Auswüchse erreichen die Öffentlichkeit in der Regel erst, wenn es in den Fabriken zu Katastrophen kommt, weil eine laxe staatliche Aufsicht bei Regelverletzungen beide Augen schliesst.
Auf Augenhöhe mit Indien
Aussenpolitisch hat sich die Regierung Hasina mit ihren wirtschaftlichen Erfolgen einigen Bewegungsspielraum erkämpft. Sie begegnet dem grossen Bruder Indien auf Augenhöhe. Gegenüber der hindu-nationalistischen Modi-Regierung mit ihrer antimuslimischen Spitze geht sie auf Distanz, etwa indem sie die China-Karte spielt. In der Vergangenheit ging sie soweit, den in Indien verfemten Widerstandsgruppen Rückzugsräume zu öffnen.
Gegen die kürzlichen hindufeindlichen Ausschreitungen – ein Novum in Bangladesch – ging Sheikh Hasina mit Verspätung und nur zögerlich vor. Sie setzte damit ein Zeichen, dass sie gegen Indien die religiöse Karte zu spielen gewillt ist, wenn dort Glaubensbrüder und -schwestern zum Freiwild gestempelt werden. Sie muss sich dabei auch innenpolitisch vorsehen. Trotz (oder gerade wegen) der Blutjustiz gegen islamistische Eiferer brodelt der kulturelle Gärungsprozess unter der Oberfläche – in Bangladesch wie in beinahe jedem islamischen Land.