In Italien hat das Meer etwas Magisches an sich. Viele wachsen mit dem Meer auf – und sterben mit ihm. In einem Land, das vom Wasser umspült wird, bedeutet das Meer Leben und Tod. Aber auch Freiheit. Am Abend schlendern die alten Leute über den Strand, als ob sie in der Kirche wären - ein uraltes Ritual.
Jeder Küstenbewohner trägt das Meer in sich. Spricht man mit ihnen, kann sich kaum einer vorstellen, nicht am Meer zu leben. „Die Schweiz ist schön, die Berge sind schön“, sagt ein Freund aus Sorrent. „Aber ich gehöre ans Meer.“ Gente di mare. Das Meer, das Nahrung bringt und Arbeit verschafft – aber unbezähmbar ist, unberechenbar und todbringend.
Zehntausende Italiener leben noch heute von der Schifffahrt. Tausende Nachkommen von Kolumbus kreuzen auf den Sieben Meeren. Legionen italienischer Fischer sind im Meer ertrunken. Fast jede Familie in der Campania, der Gegend um Neapel, erzählt von Schicksalsschlägen. Da gibt es die Geschichte der alten Frau, die am Fusse des Vesuvs lebt und jeden Tag Blumen ins Wasser wirft; ihr Mann ist vor 45 Jahren ertrunken. Aus dieser Region stammen auch der Costa Concordia-Kapitän und der Küstenwächter in Livorno.
Die Toten leben in den Möwen weiter
Überall an den drei Meeren stehen Statuen der Jungfrau Maria. Sie blicken versteinert aufs Wasser hinaus. Sie sollen Fischer und Seefahrer beschützen. Immer noch werden diese Denkmäler täglich mit Blumen geschmückt.
Oder all die Jesus-Figuren. Der heilige Niklaus von Maratea, der hoch oben auf einem Hügel mit ausgebreiten Armen Fischer und Seefahrer segnet (und Hemingway, der im darunterliegenden Städtchen einen grossen Teil von „Der alte Mann und das Meer“ schrieb).
Das Meer taucht in Sagen und Schauermärchen auf. Jedes italienische Kind kennt sie. Da sind die Sirenen im Golf von Sorrent, die es mit ihren Gesängen auf Odysseus abgesehen hatten. Als sie erfolglos blieben, verwandelten sie sich in einen gefährlichen Fels im Meer. Oder die Meeresungeheuer Skylla und Charybdis in der Strasse von Messina. Oder der Teufel, der in Salerno durch das Meer steigt und mit seinen Hörnern Boote aufgabelt, oder die Riesenschlangen, die in Kalabrien die Fischer verschlingen. Seeungeheuer und Meeresgeister: Ausdruck einer diffusen Angst.
Und all die Sagen. Katzen bringen den Seeleuten Glück. Deshalb werden streunende Katzen in Fischerdörfern nicht getötet. Noch heute glauben viele, dass die Seelen der verstorbenen Seeleute in den Möwen weiterlebten. Vielen Schiffen wurden Augen aufgemalt, damit die Seeungeheuer glaubten, sie hätten es mit ihresgleichen zu tun – und sie in Ruhe lassen.
In Neapel gibt es die Geschichte vom alten Engel, der nicht mehr fliegen kann. Seine Flügel sind lahm, die Seefahrer kann er nicht mehr beschützen. Und all die alten Leute, die stundenlang und verträumt aufs Wasser hinaus starren. Und da gibt es die vielen ragazze, die von einem bel uomo träumen; der Prinz kommt übers weite Meer - und heiratet sie.
Schiffsdramen haben etwas Mystisches an sich
In Literatur, Film und in der Volksmusik nehmen das Meer und seine Dramen einen wichtigen Platz ein. Vor allem seine Dramen. Jeder Italiener kennt sie. In der Schule werden sie behandelt. Schiffskatastrophen haben sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben.
Im Land am tyrrhenischen, ionischen und adriatischen Meer haben Schiffshavarien – und seien sie noch so klein – einen zentralen Stellenwert. Zwar sterben auf italienischen Strassen wöchentlich bis zu hundert Menschen. Doch davon spricht man kaum. Gerät aber ein Schiff in Not, so horcht man angsterfüllt auf. Schiffsdramen haben etwas Mystisches an sich.
Diesmal ist alles gewaltiger als sonst. Da kippt ein 50‘000 Tonnen-Riese mit 4200 Personen an Bord. Das gab’s noch nie. Schon jagen sich Verschwörungstheorien.
Auch gottesfürchtige Puristen melden sich zu Wort. Man wisse es ja, sagen sie, solche Kreuzschiffe seien oft „schwimmende Bordelle“. Auf jeden Fall seien sie Ausdruck eines „zügellosen, hohlen und gotteslästernden Luxuslebens“. Deshalb habe Gott ein Zeichen gesetzt. Er habe das Schiff in den Felsen gesteuert und zeigen wollen: „So geht es nicht, findet zurück zu ehrenwertem Leben“. Man erinnert sich an jene, die einst sagten, Aids sei eine von Gott geschickte Strafe.
Immerhin: Die wenigsten Italiener glauben diesen Unsinn. Doch die Angst vor dem Meer ist tief in der italienischen Seele verankert: die Angst, dass übernatürliche Kräfte uns verschlingen.
Schon damals: ein Fels im Wasser
In einer Bar im Hafen von Genua sitzen vier Seeleute. Zwar haben sie den Corriere dello Sport vor sich, doch jetzt ist Sport Nebensache. Kein böses Wort über Kapitän Schettino. Am Fernseher die letzten News: Wieder hat man eine Leiche gefunden. Die Vier sind versteinert, einer hält die Hand des andern. Die Stimmung in der Bar ist gespenstisch.
Jetzt reden sie wieder. Sie reden von einem Drama, das vor 106 Jahren geschah und das Land noch heute traumatisiert. Schon damals ging es um einen Fels im Wasser. Und schon damals fuhr die Mannschaft zu nahe der Küste entlang.
Das Schiff, von dem die Seeleute jetzt sprechen, war von hier aus, vom Hafen von Genua, gestartet. Und gerade jetzt – nach dem Unglück vor Giglio – ist jener 4. August wieder in vieler Munde.
Berühmt wurde jenes Drama auch durch eines der ergreifendsten italienischen Volkslieder. Jede Schulklasse von Como bis Syrakus hat es schon gesungen. (Text, Audio und Video siehe unten).
Auf dem Weg nach Amerika
„Die Menschen sangen und waren fröhlich“, heisst es in dem Lied. Es sind italienische Auswanderer, die sich auf dem Schiffsdeck befinden. Sie wollen nach Amerika, sie wollen ein besseres Leben.
Sie haben sich Anfang August 1906 im Hafen von Genua eingeschifft, und zwar auf der „Sirio“. Das Schiff, in Glasgow gebaut, ist zwar 23 Jahre alt, doch mit seinem 4400 PS-Motor und seinen 13 Knoten Höchstgeschwindigkeit (etwa 23 Kilometer pro Stunde) ist es für damalige Verhältnisse fast schon ein Flitzer.
Die „Sirio“ ist 119 Meter lang und besitzt 80 Luxus- und 40 Zweitklass-Kabinen. In der dritten Klasse, auf Pritschen, schlafen 1200 Emigranten. Sie wollen nach Argentinien, Uruguay und Brasilien.
Seit Jahren transportiert die „Sirio“ Auswanderer nach Südamerika. Viele der italienischen Nachkommen, die heute in Argentinien und Uruguay leben, sind mit der „Sirio“ gekommen.
Der 4. August ist ein wunderbarer Tag. Die „Sirio“ befindet sich jetzt vor der südspanischen Küste. Der Dampfer soll dann die Meerenge von Gibraltar durchqueren und schliesslich Kurs auf Südamerika nehmen.
Ein Knall wie aus einer Kanone
Es ist 4.00 Uhr nachmittags, das Schiff fährt entlang der Ameisen-Inseln vor Cartagena. Dort, bei Cabo de Palos, ist das Meer nur drei, vier Meter tief. Überall liegen Felsen im Wasser. Doch sie alle sind auf den nautischen Karten eingezeichnet. Auch zwei grosse Leuchttürme weisen auf die Gefahr hin.
Auf der „Sirio“ befindet sich auch Felice Serafini. Er stammt aus der norditalienischen Stadt Vicenza. Er ist mit seiner schwangeren Frau und seinen acht Kindern an Bord. „Plötzlich hörten wir einen gewaltigen Aufprall, dann ein langes Knirschen“, erzählt er später. Der Bug richtet sich auf. „Dann gab es einen Knall wie aus einer Kanone“. Serafini wird ins Wasser geschleudert. Von einer starken Welle wird er an die Schiffswand katapultiert. Er überlebt.
Rettungsboote gibt es nur wenige an Bord. Auch eine zweite Schiffsschraube und ein doppelter Boden fehlen. Zwar hätte das - laut Verordnung - vorhanden sein müssen. Doch die Lobby der Reeder verhinderte im Parlament ihre Einführung. Das alles sei zu teuer. Zudem hätte dann Platz für den lukrativen Transport der Auswanderer gefehlt.
Ein geretteter Offizier gab später zu, dass nur eine uralte, beschädigte nautische Karte an Bord war.
Der Bischof segnet die Sterbenden - und stirbt
Nach dem Aufprall herrscht Chaos. Schreckliche Szenen spielen sich ab. Mütter umarmen ihre Kinder. Diese werden in die Wellen geschleudert. Es gelingt nicht, die wenigen Rettungsboote ins Meer zu lassen. Messer fehlen, um die Stricke zu durchschneiden. Mit langen Speeren versucht man, das Schiff vom Felsen wegzustossen. An Bord befindet sich auch der Bischof von Sao Paolo. Er segnet die Sterbenden – und stirbt dann selbst.
Ein Teil der Besatzung lässt nach dem Aufprall ein Floss ins Meer gleiten und flüchtet damit an Land. Alle Besatzungsmitglieder können sich retten, fast alle Emigranten sterben. „Eine Schande“, schreibt damals der Corriere della sera.
Der dritte Offizier war es, der das Schiff zu nahe an die Küste herangesteuert hatte. Giuseppe Piccone, der 68-jährige Kapitän, hatte in der Kabine gedöst. Auch er rettet sich. Er stirbt drei Monate später an Kummer.
Offiziell sterben 292 Menschen. Doch in Wirklichkeit sind es zwischen 450 und 500. Unter den Toten befinden sich auch die schwangere Frau von Felice Serafini sowie sechs ihrer Kinder. Serafini zieht vor Gericht. Der Schiffsbesitzer offeriert ihm drei Schiffstickets nach Amerika: für sich und seine zwei verbliebenen Kinder.
Die Geschichte vom Säugling
Heute liegt das Wrack der „Sirio“ noch immer vor Cartagena etwa 70 Meter unter Wasser. Tauchende Touristen brauchen eine Spezialbewilligung, um die Überreste „besuchen“ zu können.
Das Unglück gehört zu den schrecklichen italienischen Emigranten-Geschichten. Es gab auch andere. Vor Gibraltar sank 1891 die „Utopia“ mit Hunderten italienischen Auswanderern. Es waren verarmte Leute aus Kalabrien, Basilicata und der Campania. Man weiss nicht, wie viele Italiener sich unter den 576 Toten befanden.
Doch die „Sirio“ hat sich wie kein anderes Schiffsunglück als nationale Tragödie ins italienische Bewusstsein eingegraben. ln der Bar von Genua erzählt jetzt einer der Seefahrer die 106-jährige Geschichte eines Neugeborenen.
In den Tagen nach dem Drama seien viele Leichen an den Strand bei Cartagena gespült worden. Auch ein Säugling sei angeschwemmt worden. Er lebte.
Klicken Sie hier, um das Lied zu hören (Es gibt zahlreiche Aufnahmen. Die wohl schönste ist jene aus dem "Bella Ciao"-Album". Text unten.
Klicken Sie hier, um das Video zu sehen (Der Video-Clip mit Francesco de Gregori zeigt auch einige Fotos aus jener Zeit. De Gregori gehört zu den bekanntesten italienischen Cantautori.)
Il Sirio
E da Genova il Sirio partivano
Per l’America varcare i confin.
Ed a bordo cantar si sentivano
Tutti allegri del suo, del suo destin.
Urtò il Sirio un orribile scoglio,
Di tanta gente la misera fin.
Padri e madri bracciava i suoi figli
Che si sparivano fra le onde - fra le onde del mar.
E fra loro un vescovo c’era
Dando a tutti la sua bene - la sua benedizion.
Ungefähre Übersetzung: Von Genua aus ist die « Sirio » nach Amerika aufgebrochen und hat die Grenze überquert. An Bord hörte man Gesänge, alle waren glücklich über ihr Schicksal. Dann rammte die „Sirio“ einen schrecklichen Felsen und brachte vielen ein furchbares Ende. Väter und Mütter umarmten ihre Kinder, die dann zwischen den Wellen verschwanden. Unter den Passagieren befand sich ein Bischof, der alle segnete.