Hier gibt es alles: ein gefälschtes Nacktfoto von Lady Di, eine seidene Unterhose von Cosimo di Medici, ein Hemd von Mussolini. Hier gibt es Porzellan und eine Radierung der Schlacht von Lodi. Möbel, zerkratzte Vinyl-Platten und Teppiche, alte Lüster, Bücher und Briefmarken von italienisch Somaliland. Trödel und echte Kunst.
Immer am ersten Wochenende im Monat verwandelt sich das kleine Städtchen zum grössten Antiquitätenmarkt Mittelitaliens. Arezzo liegt auf einem Hügel, 40 Autominuten südlich von Florenz. Der Monatsmarkt ist ein Touristenmagnet. Überall hört man Englisch und Deutsch. Einheimische beklagen, dass die Ausländer die Preise in die Höhe treiben. Manche Ware wird vom riesigen Antiquitätenmarkt in St. Ouen im Norden von Paris hierher gekarrt. Den Touristen, die sich in den engen Gassen drängen, ist’s egal.
Die wenigsten Marktbesucher wissen, auf welch edlem Boden sie sich hier befinden. Arezzo ist eine Perle mittelalterlicher Kultur, eine Perle der Renaissance auch. Hier, wo heute halbnackte Ausländer flanieren, wirkten einst grosse italienische Geister.
Einer der grossartigsten Maler
Kaum einen Marktbesucher zieht es in die Oberstadt, in die Via dell’Orto. Dort steht die Casa di Petrarca, der hier 1304 geboren sein soll. Der Humanist Petrarca gehört neben Dante Alighieri und Boccaccio zu den wichtigsten italienischen Literaten.
Weiter unten liegt die Kirche San Francesco. Riesige Plakate machen die Marktbesucher darauf aufmerksam, dass sich im Innern der Kirche eines der wichtigsten Kunstwerke Italiens befindet, gemalt von einem der grossartigsten Maler der italienischen Frührenaissance. Die Fresken von Piero della Francesca, die vor 15 Jahren fertig restauriert wurden, zeigen biblische Geschichte. Sie gehören zum Gewaltigsten, was Künstler je geschaffen haben.
Eine Art „News of he World“-Reporter
Im gleichen Jahr, in dem Piero della Francesca erblindet stirbt, wird in Arezzo ein anderer brillanter Geist geboren: Pietro Arentino. Er verfasst Schriften, von denen sich die Mächtigen fürchten. Er parodiert sie, zerzaust sie, erzählt Intimitäten, nimmt kein Blatt vor den Mund. Mindestens zwei Attentate werden auf ihn verübt.
Er gehört auch zu den ersten pornografischen Schriftstellern. Eigentlich ist er eine Art „News of he World“-Reporter. Doch nicht nur. Aretino hinterlässt geistreiche Theaterstücke, sensible religiöse Texte und über 3000 Briefe, die kulturhistorisch von grösster Bedeutung sind. Georg Büchner soll kurz vor seinem Tod in Zürich ein Theaterstück über Aretino geschrieben haben. Der Text ging verloren. Möglich ist, dass ihn seine Verlobte vernichtet hat, weil er kirchenfeindliche Stellen enthielt.
Doch einen seiner Zeitgenossen verschont Pietro Aretino. Ihn schätzt er. Auf seinen Namen stösst man in Arezzo auf der schräg abfallenden Piazza Grande. Sie liegt oben im Städtchen und ist ein Juwel italienischer Baukunst. Die nördliche Seite des Platzes ist von einem Säulengang umsäumt: der „via Giorgio Vasari“. Hier befindet sich auch das teuerste Restaurant der Stadt: die „Logge Vasari“. Wissen die Touristen, die hier zarte Chianina-Steaks essen, wer Vasari ist?
Profunder Sachverstand, vieles erfunden
Giorgio Vasari wird am 30. Juli 1511 in Arezzo geboren, vor genau 500 Jahren. Ohne ihn wüssten wir wenig über Michelangelo oder Raffael, über Botticelli oder Tizian. Vasari hat das Bild der grössten italienischen Renaissance-Künstler massgeblich geformt – auch wenn dieses Bild manchmal falsch ist.
Vasari ist einer der ersten Kunsthistoriker. Er schreibt das erste Künstlerlexikon. In drei Bänden porträtiert er 131 der wichtigsten Künstler seiner Epoche. Da gibt es Texte zu Giotto, zu Alessandro Baldovinetti, zu Pietro und Abrogio Lorenzetti, zu Piero della Francesca, Filippo Lippi, Leonardo da Vinci und viele mehr. „Das Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Architekten“ nennt er die Biografien, die 1550 erstmals erschienen. ("Le Vite delle più eccellenti pittori, scultori, ed architettori").
Es ist kein wissenschaftliches Werk. Vieles ist erfunden, viele Fakten sind erwiesenermassen falsch. Vasari ist viel gereist und erfährt so manchen Klatsch über diesen und jenen. All das offeriert er in bunter Schreibe seinen Lesern. Die Beschreibungen erhalten immer viele farbige Anekdoten, dessen Wahrheitsgehalt nicht geprüft werden kann. Und doch zeugen die Texte von einem profunden künstlerischen Sachverstand des Autors. Kunstkritiker bemängelten später, dass Vasari nur über toskanische und römische Künstler schreibt – und sie meist hochjubelt. Künstler anderer Regionen bleiben unerwähnt. Den glänzenden Ruf, den die toskanische und römische Renaissance noch heute hat, ist zu einem grossen Teil auf Vasaris Schriften zurückzuführen.
Auch seine eigene Biografie fügt er seinem Werk über die „ausgezeichnetsten“ Künstler bei. Sein eigenes Wirken ist ihm immerhin 42 Seiten wert.
Erfinder des Begriffs „Renaissance“
Vasari teilt das künstlerische Schaffen in drei Epochen ein. Zunächst huldigt er der griechisch-römischen Antike. Darauf folgt das künstlerisch dunkle Mittelalter. Zu dieser öden Epoche gehört laut Vasari auch die Gotik. Dann im 13. Jahrhundert wird die Kunst wiedergeboren, die antiken Werte werden neu belebt: die Renaissance ist da.
Den Begriff „Renaissance“, „Rinascimento“ verwendet Vasari als erster 1550. Er erfindet auch den Ausdruck ‚Gotik‘. Doch er hasst die Gotik und betrachtet sie als barbarische Kunst des Nordens, abgeleitet von den germanischen Goten (das italienische ‚gotico‘ heisst auf Deutsch ‚wirr‘). Und noch für einen dritten Begriff ist Vasari zumindest teilweise verantwortlich: den Manierismus. Michelangelos spätes Werk nennt er ‚maniera moderna‘. Sein Kollege Pietro Arentino spricht von ‚maniera nuova‘.
Architekt der Uffizien
Doch Vasari ist nicht nur Chronist und Kunsthistoriker. Er beginnt 1559 mit dem Bau eines der wichtigsten Museen der Welt: den Uffizien in Florenz. Im Gebäude, von den Medici bestellt, sollten zunächst die Büros der Stadtverwaltung untergebracht werden. Erst später werden die Uffizien zum Museum.
Zwischen den Uffizien und dem Palazzo Pitti baut er im Rekordtempo von fünf Monaten den ein Kilometer langen Vasari-Korridor, in dem heute Hunderte wertvollster Bilder hängen. Die Zeit drängt. Der Korridor muss zur Hochzeit von Francesco de Medici mit Giovanna von Österreich fertig sein.
Wie ist es möglich, dass ein Töpfer-Junge im kleinen Arezzo eine solche Karriere macht? Der Familienname Vasari leitet sich vom italienischen „vasaio“, Töpfer, her. Giorgios Vater ist es gelungen, seinen Sohn am Hof der Medici in Florenz einzuführen.
Ein Freund der Medici
Schnell befreundet sich Giorgio mit dem ein Jahr älteren Alessandro de Medici („Il Moro“). Doch 1527 werden die Medici gestürzt. In Florenz wird die Republik eingeführt. Alessandro und seine Familie fliehen. Auch Vasari kehrt in seine Heimatstadt Arezzo zurück. Drei Jahre später wendet sich das Blatt. Jetzt wird die Republik abgeschafft und Alessandro kehrt zurück – und mit ihm Vasari. Alessandro wird jetzt, mit 20 Jahren, Stattherr von Florenz und fördert Vasari, der mehrere Jahre lang als Hofmaler der Medici wirkt. 17 Jahre später wird Alessandro von seinem Cousin Lorenzino ermordet.
Danach zieht Vasari immer wieder in eines der schönsten Klöster der Toskana: in die Abbazia di Monte Oliveto Maggiore. Dort, unweit von Siena, wird er Hofmaler bei den Benediktinern. Auf seinen vielen Reisen zwischen Arezzo, Florenz, Siena und Monte Oliveto erfährt er auch viel über Intrigen und Hass in der Kunstszene – all das verarbeitet er in seinen „Vite“.
Natürlich wird auch damals geklatscht. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Vasaris Grossvater ein intimes Verhältnis zu Michelangelos Mutter hatte. Ob es nun stimmt oder nicht – geschadet hätte es Vasari sicher nicht.
150 Millionen für seine Schriften
Schon bald kauft Vasari ein Haus in Arezzo, in der heutigen Via 20 settembre. Dort verbringt er die meiste Zeit seiner Arbeit. Die Zimmer bemalte er mit wunderbaren Fresken. Das Haus, die Casa Vasari, ist heute ein kleines Museum.
Dort auch befinden sich Tausende von Dokumenten. 2009 heult Italien auf, als es erfährt, dass das Vasari-Archiv für 150 Millionen Euro an einen russischen Investor verkauft werden soll. Der Besitzer des Archivs, Graf Giovanni Festari, hat den Kauf kurz vor seinem Tod publik gemacht. Italien fürchtet, eines seiner wichtigsten Kulturgüter zu verlieren.
Der Wert des Archivs ist kurz zuvor auf höchstens drei Millionen Euro geschätzt worden. Und jetzt also 150 Millionen. Käufer, so heisst es, sei die russische „Ross Engineering“. Nach dem Aufschrei bietet die Familie des verstorbenen Grafen der Stadt Arezzo an, das Archiv zu kaufen. „Das ist verrückt“, kommentiert der Bürgermeister, „wo kriege ich 150 Millionen Euro her, das ist die fünffache Summe des Jahresbudgets von Arezzo“. Offenbar war das Ganze dann doch eine italienische commedia. Der Deal scheint geplatzt. Die Familie des Grafen hatte die Russen nur vorgeschoben, um den Preis zu erhöhen. So sollte Italien erpresst werden, die 150 Millionen zu bezahlen.
Irgendwo in der Kirche begraben
Später erfährt Italien, dass ein grosser Teil der Vasari-Dokumente schon jetzt im Ausland ist. Das sogenannte Spinelli-Archiv, mit Tausenden von Schriften, befindet sich in der Handschriftensammlung der amerikanischen Yale-Universität. Dort gehört es eigentlich nicht hin. Doch Vasaris Nachfahren hatten die Texte 1988 klammheimlich in die USA verkauft, um zu Geld zu kommen. Niemand wusste das, niemand heulte auf.
Vasari selbst stirbt am 27. Juni 1574 mit 63 Jahren. Beigesetzt wird er in Arezzo innerhalb der grandiosen Kirche Santa Maria della Pieve – und zwar irgendwo. Fast 300 Jahre lang weiss man nicht, wo er liegt. Erst 1865 werden die Gebeine bei Restaurationsarbeiten gefunden. Zusammen mit sechs andern Verstorbenen wird er begraben: ein Meter zwanzig unter dem Fussboden der Kirche.