Frankreich steht seit Beginn der Coronakrise dieser Tage vor dem dritten, noch weitergehenden Lockdown als dem, der seit Ende Oktober 2020 ohnehin schon gilt. Die täglichen Infektionszahlen liegen seit über einer Woche bei mehr als 20’000 und steigen täglich leicht. Angepeilt war Ende Oktober, als eine Reihe neuer Einschränkungen verhängt wurden, die Zahl von täglich 5’000. Zudem ist bei den Neuinfizierten in der vergangenen Woche der Anteil der britischen Variante des Virus auf nahezu zehn Prozent gestiegen.
Bislang haben die Franzosen alles in allem die Einschränkungen, denen sie seit über zehn Monaten ausgesetzt sind, ohne allzu grosses Murren akzeptiert und sich weitgehend verantwortungsvoll verhalten. Selbst die seit zwei Wochen überall geltende nächtliche Ausgangssperre, die von 20 auf 18 Uhr vorverlegt wurde – was für arbeitende Eltern mit Kindern in der Schule ein täglich nervendes Kopfzerbrechen darstellt –, wird von der Bevölkerung mehr oder weniger eingehalten. Dies, obschon inzwischen klar ist, dass diese Massnahme ausser zusätzlichem Alltagsstress im Kampf gegen das Virus nichts gebracht hat. Um so erstaunlicher ist es, dass Präsident Macron sich vergangene Woche wieder einmal im Ton vergriffen hat und im Zusammenhang mit der Coronakrise ohne Not auf Konfrontation zu seinen Landsleuten ging und meinte, sie massregeln zu müssen.
66 Millionen Staatsanwälte
Bei einem Universitätsbesuch geisselte er plötzlich das ständige Misstrauen der Franzosen und ihre permanente Suche nach kleinsten Irrtümern und Fehlern. Ja, Macron beklagte, Frankreich sei eine Nation aus 66 Millionen Staatsanwälten geworden. Das aber sei nicht die Art, mit der man der gegenwärtigen Krise begegnen oder in dieser Krise vorankommen könne.
Da war er wieder, der junge Präsident, der alles besser weiss und dem wieder einmal eine seiner inzwischen berühmten Publikumsbeschimpfungen herausgerutscht war. Weshalb er das tut, bleibt sein Geheimnis; es hat ihm seit gut zwei Jahren das Prädikat „arrogant“ eingebracht. Man erinnere sich an Macrons Worte, die er einst an einen Arbeitslosen richtete, wonach dieser nur über die Strasse zu gehen bräuchte, um einen Job zu finden. Oder als er bei einem Besuch in Dänemark über seine eigenen Landsleute lästerte und sie als Gallier bezeichnete, die widerspenstig gegenüber allen Reformen seien. Gewiss nicht die geeignete Art, das von ihm jetzt beklagte ständige Misstrauen der Franzosen in Vertrauen zu verwandeln.
Emmanuel Macron, der sich zu Beginn der Coronakrise am 16. März 2020 zum Feldherrn im Krieg gegen die Pandemie erklärt hatte, kann inzwischen nicht mehr verhehlen, dass die Krise an seinen Nerven zehrt. Zumal niemand mehr bestreiten kann, dass Macrons selbsterklärter Krieg gegen die Pandemie von unzähligen Pannen begleitet war, aus denen man darüber hinaus nach fast einem Jahr nicht sonderlich viel gelernt zu haben scheint.
Impfkampagne
Präsident und Regierung scheinen dieser Tage dabei zu sein, denselben Fehler von vor zehn Monaten zu wiederholen, nämlich der Bevölkerung nicht zu vertrauen, ja sie letztendlich anzulügen.
Im März 2020 hiess es offiziell Wochen lang, Schutzmasken würden überhaupt nichts bringen – bis die Regierung nicht mehr verbergen konnte, dass sie schlicht keine Masken hatte. Ein Vorgehen, das niemand im Land vergessen hat und das selbstredend kein Vertrauen schaffen konnte. Nun muss man den Eindruck haben, dass sich das Ganze in Sachen Impfkampagne wiederholt. Von der immer wieder versprochenen Transparenz oder einer besseren Koordination des Zentralstaats mit lokalen und regionalen Institutionen gibt es bislang so gut wie keine Spur.
Gewiss, inzwischen haben fast alle europäischen Länder auf Grund von Lieferschwierigkeiten ihre Probleme mit den Impfungen der Massen. Doch der Beginn der Impfkampagne in Frankreich zur Jahreswende bleibt mit Sicherheit beispiellos und ist leider ein erneuter Ausdruck des politischen Amateurismus, der sich in den Regierungen unter Präsident Macron breitgemacht hat und offensichtlich nicht zu beheben ist. Wenn weiter gelten soll, dass die Fähigkeit des Vorraussehens eine Grundkomponente im politischen Alltagsgeschäft ist, dann kann und darf man sich einfach nicht so tollpatschig verhalten, wie die französische Regierung dies zur Jahreswende getan hat.
Mit grossem Getöse war am 27. Dezember 2020 die erste Insassin eines Altersheims geimpft worden. Sie hiess Mauricette und war 78 Jahre alt und ganz Frankreich schmunzelte über den antiquierten Vornamen. 48 Stunden langt geisterte die Arme durch alle Fernsehkanäle. Kommunikation bis zum Überdruss. Doch danach passierte tagelang offensichtlich kaum noch etwas.
Damals telefonierte einer in Ostfrankreich mit einer deutschen Freundin. Sie sagte ihm, bei uns sind jetzt 100’000 geimpft. Bei uns 44 sagte der im Osten Frankreichs. Nicht so schlecht, erwiderte die Freundin in Deutschland. Nein, nein, musste er korrrigieren, nicht 44’000, sondern 44!
Am Tag danach verteidigte Frankreichs Gesundheitsminister dann sogar noch offensiv den schleppenden Impfbeginn. Man mache das bewusst langsam, um das Vertrauen in der Bevölkerung für das Impfen zu beflügeln. Was nichts anderes hiess, als dass sich Frankreichs Regierung in jenen Tagen von den Meinungsumfragen und vom Getöse der Impfgegner ihr Handeln diktieren liess. Denn angeblich waren zur Jahreswende nach Umfragen nur 42 Prozent der Franzosen für das Impfen.
Doch dann erschienen die ersten internationalen Statistiken über die Anzahl der Geimpften pro Land und Frankreich fand sich ganz tief unten am Ende der Liste wieder, irgendwo hinter Georgien. Prompt setzte eine Welle des Wehklagens ein: Frankreich mache sich lächerlich, man sei schon wieder der Letzte in der Klasse und im Ausland eine einzige Lachnummer. Zudem musste sich die Regierung in den ersten Januartagen zu Recht vorhalten lassen, sie habe wohl einfach die 25 Millionen Franzosen vergessen, die sich auf jeden Fall impfen lassen wollten.
Die Folge: Die anfängliche, reichlich skurrile Argumentation des Gesundheitsministers hatte ganze zwei Tage Bestand, bevor er sich diametral widersprechen und zu Kreuze kriechen musste, um mit derselben Inbrunst von heute auf morgen die Beschleunigung der Impfkampagne einzuläuten. Und quasi über Nacht waren plötzlich 58 Prozent der wendehalsigen Franzosen für das Impfen.
Der konservative Präsident der Region Grand-Est, die das Elsass, Lothringen und die Champagne umfasst und wo die beiden Wellen der Pandemie ganz besonders heftige Auswirkungen hatten, scheute sich ob des Lavierens der Zentralregierung und den Verzögerungen am Beginn der Impfkampagne nicht, von einem „Staatsskandal“ zu sprechen.
Jakobinismus
Der in Frankreich berühmte „administrative Blätterteig“ (millefeuille administratif) hat angesichts der Pandemie in den letzten Monaten seltsame und oft traurige Blüten getrieben. Die unterschiedlichen Ebenen der Verwaltung traten sich auf den Füssen herum und die eine Hand wusste oft nicht, was die andere tat, tun durfte oder tun sollte. Von den Kommunen über die Kommunalverbände, die Departements, die Regionen bis hin zum Zentralstaat und seinen Präfekten in den Departements sowie zu den unterschiedlichsten und oft überforderten Institutionen im Gesundheitswesen, ob regional oder national, liess die Koordination mehr als zu wünschen übrig. Unvergessen zu Beginn der Krise die Episode, als der Zentralstaat eine Maskenlieferung beschlagnahmen liess, die von einer Region im Osten Frankreichs bestellt worden war.
Zwar herrschte im Land nach solchen und ähnlichen Peinlichkeiten am Ende der ersten Covid-Welle weitgehende Einigkeit darüber, dass der französische Zentralismus und die aufgeblasene Bürokratie für ein effizientes Krisenmanagement wahrlich nicht hilfreich waren, doch wirklich gelernt hat man daraus offentsichtlich so gut wie nichts.
Seit Monaten war doch klar, dass man irgendwann eine flächendeckende Corona-Impfung würde organisieren müssen, sobald die Vakzine zur Verfügung stehen. Doch die Bürgermeister in Frankreichs Städten haben gerade mal drei Tage vor Beginn der Impfkampagne vom Zentralstaat Anweisungen darüber bekommen, was man von ihnen nun konkret erwartet und was sie zu tun hätten.
Exemplarisch peinliche Woche
Geradezu peinlich war auch der Verlauf dieser letzten Woche. Vergangenen Sonntag hatte der Vorsitzende einer der zahlreichen Gesundheitsbehörden, die mit der Pandemie befasst sind, klargestellt, dass angesichts der Entwicklung der jüngsten Zahlen ein dritter und harter Lockdown unausweichlich sei, und zwar je früher, desto besser. Anonyme Quellen aus Regierungskreisen kündigten diesen Schritt für Mittwoch an. Der Präsident würde sich an diesem Tag im Fernsehen äussern. Premierminister Castex stimmte tags darauf, am Montag, noch ähnliche Töne an, indem er sagte, wichtige Entscheidungen stünden unmittelbar bevor. Am Tag danach äusserte der oben genannte Vorsitzende des Wissenschaftlichen Rates in Sachen Pandemie aber plötzlich die Ansicht, auf eine Woche käme es dann letztlich auch nicht mehr an.
Da waren ganz offensichtlich einige zurückgepfiffen worden und der Pfiff kam eindeutig aus dem Élyséepalast, wo der Präsident sich nicht drängen lassen wollte und so tat, als müsste er zeigen, dass letztlich er, Emmanuel Macron, allein entscheidet, wo es langgehen soll. So ganz nebenbei hat man auch in diesem Fall den Franzosen wieder ein kollektives Kommunikationschaos zur Schau gestellt, welches ebenfalls nicht dazu angetan ist, das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Exekutive zu stärken.
Die Angst des Präsidenten
Es ist nicht zu leugnen, dass sich im Land eine Stimmung ausgebreitet hat, die von Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Perspektivlosigkeit und einer guten Portion Fatalismus geprägt ist. Und auch von Verzeiflung und schierer Wut.
Diese Stimmung beschäftigt Präsident Macron verständlicherweise mindestens so sehr wie die sanitäre Situation im Land. Restaurantbetreiber etwa, die seit Monaten nicht arbeiten können, rufen auf sozialen Netzwerken mitlerweile ihre Kollegen zum, wie sie sagen, zivilen Ungehorsam auf und drängen sie, fast hasserfüllt, ihre Restaurants einfach wieder aufzusperren.
Der von der Gelbwestenbewegung der letzten Jahre und der damit einhergehenden Gewalt tief gezeichnete Staatschef fürchtet angeblich angesichts der sich abzeichnenden wirtschaftlichen und sozialen Krise und ihren Folgen ein erneutes Klima des Aufstands im Land. Die Ingredenzien dafür sind in der Tat vorhanden.
Das französische BIP ist 2020 um gut acht Prozent eingebrochen, um drei Prozent mehr als im Nachbarland Deutschland. Man muss fürchten, dass die Zahl der französischen Arbeitslosen im laufenden Jahr um eine Million steigt im Vergleich zur Zeit vor Ausbruch der Krise. Man fragt sich, ob dieses Jahr 30, 40 oder 50 Tausend Betriebe mehr schliessen werden als zu normalen Zeiten. Momentan haben allein etwa 200’000 Saisonarbeiter, die normalerweise im Skitourismus beschäftigt sind, schlicht keinen Job. Die Ungewissheit zehrt an den Nerven von Millionen Menschen, die Praxen von Psychologen und Psychiatern sind überlaufen.
Dazu kommt die Sorge um die Jugend. Der Satz aus den Dreissigerjahren des Schriftsellers Paul Nizan wird gerade fast täglich irgendwo im Land zitiert: „Ich war zwanzig Jahre alt und ich werde niemandem erlauben zu sagen, dies sei das schönste Alter im Leben.“ Über eine Million Studenten im Land fühlen sich seit einem Jahr reichlich alleingelassen, viele vereinsamen und Zehntausende von ihnen sind schlicht verarmt. Fast alle Nebenjobs sind aufgrund der Krise weggefallen. Abertausende haben alles einfach hingeschmissen. Auch da liegt Verzweiflung in der Luft und der Präsident fürchtet, sie könnte sich in Protesten und Gewalt entladen. Mit Argusaugen schaut man dieser Tage aus dem Élyséepalast nach Holland und Dänemark und den gewaltsamen Vorfällen dort.
Macrons verhaltener Unmut und seine Reizbarkeit, die er derzeit nur noch schwer verbergen kann, hat mit Sicherheit auch damit zu tun, dass der politische Alltag jetzt seit beinahe einem Jahr fast nur noch von der Pandemie bestimmt ist. Zwei oder drei Mal hat der Präsident in dieser Zeit Anläufe gemacht, die Diskussion über hintangestellte Reformvorhaben neu zu entfachen, doch die Kraft des Faktischen war einfach stärker und alles ist wieder in der Versenkung verschwunden. Die höchst umstrittene Rentenreform oder die geplante Reform der Arbeitslosenversicherung während der Pandemie und bei der gegenwärtigen Stimmung im Land wieder aufzunehmen, wäre politisches Harakiri. Dies musste schliesslich wohl auch der ungeduldige Präsident einsehen. Er hält sich zu diesen Themen seitdem bedeckt.
Regionalwahlen
Doch dann kommen da zu allen anderen Sorgen des Präsidenten auch noch die Regionalwahlen, die eigentlich Ende März stattfinden sollten, wegen der Pandemie aber erst mal bis Ende Juni verschoben wurden. Sie sind ein echter Knochen, an dem der Präsident und seine Partei hart zu nagen haben und wo sie offensichtlich überhaupt nicht wissen, wie sie sich am besten aus der Affäre ziehen könnten. Bislang zumindest stellt sich Macrons Partei La République en Marche (LREM) auch in dieser Angelegenheit wieder einmal reichlich stümperhaft an.
Für jeden routinierten Beobachter des politischen Lebens in Frankreich ist überdeutlich, dass diese junge Partei, die seit 2017 im Grunde nicht wirklich eine geworden und lokal und auch regional fast nirgendwo tatsächlich verankert ist, bei den Regionalwahlen mit eigenen Listen und eigenen Spitzenkandidaten oder Kandidatinnen so gut wie keine Chance hat, auch nur eine einzige der 13 französischen Regionen zu gewinnen und dort den Regionalpräsidenten oder die Präsidentin zu stellen. Viele in der Partei plädieren deswegen inzwischen dafür, in den Regionen, je nachdem, mit der Zentrumspartei Modem oder den Konservativen der ehemaligen Sarkozy-Partei Les Républicains zusammenzugehen. Doch die Parteispitze und auch Präsident Macron selbst wollen davon bislang offensichtlich nichts wissen.
Just an diesem Freitag haben sie in der wichtigsten Region, der Île-de-France rund um Paris, einen illustren Unbekannten zum Spitzenkandidaten gekürt, nachdem Bildungsminister Blanquer trotz Drängen des Präsidenten dankend abgelehnt hatte, wohl wissend, dass er nur Prügel beziehen könnte und absolut keine Chance hat. Dabei müssten Parteiführung und Präsident sich eigentlich bewusst sein, welch katastrophalen Eindruck es ganze neun Monate vor dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl im April 2022 machen wird, wenn die Partei des Präsidenten, der ein Dreivierteljahr später zur Widerwahl antreten will, bei diesen Regionalwahlen keine einzige Region erobert, ja in manchen – wie abzusehen – nicht mal auf zehn Prozent der Stimmen kommt.
Dabei hätte die Schlappe der Macronpartei bei den Kommunalwahlen im letzten Jahr dem Präsidenten und seinem Umfeld eigentlich eine Lehre sein müssen. LREM, diese Partei mit überwiegend urbanen Anhängern, hat damals doch tatsächlich nur eine einzige von den 42 französischen Städten mit mehr als 100’000 Einwohnern für sich gewinnen können: Le Havre! Und dies auch nur, weil der dortige Kandidat Édouard Philippe vor seiner dreijährigen Amtszeit als Macrons Premierminister zwischen 2017 und 2020, bereits jahrelang Bürgermeister dieser Hafenstadt gewesen war.
Ausblick auf 2022
Die Dünnhäutigkeit Macrons in den letzten Wochen und Monaten hat ganz eindeutig auch damit zu tun, dass beim Votum der Franzosen während der Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr ganz überwiegend eines zählen wird: die Art und Weise, wie der amtierende Präsident und seine Regierung das Land letztlich durch die Coronakrise gebracht haben und wie gross der wirtschaftliche und soziale Schaden im Land dann sein wird.
Kein Wunder, dass Macron sich angesichts dessen um seine Wiederwahl Sorgen macht. Zumal heute schon, unabhängig von der Coronakrise, sicher ist, dass Hunderttausende aus dem Mitte-Links-Lager, die vor nun bald vier Jahren für den strahlenden Newcomer in der französischen Politik gestimmt hatten, ihm 2022 ihre Stimmen auf jeden Fall verweigern werden.
Vielleicht wird man sich in diesem Zusammenhang im Frühjahr 2022, und hoffentlich ohne böses Erwachen, daran erinnern, dass jetzt am 27. Januar 2021 die allererste, natürlich völlig verfrühte und kaum wirklich aussagekräftige Meinungsumfrage zum zweiten und entscheidenden Durchgang der französischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2022 erschienen ist. Mit dem Resultat: 52 Prozent für Macron, 48 Prozent für Le Pen! Das sind 15 Prozentpunkte weniger für den einen und 15 mehr für die andere im Vergleich zu den Wahlen 2017.