„Die Torheit ist ebenso alt wie die Menschheit“, so oder ähnlich soll Erasmus von Rotterdam vor rund 550 Jahren geschrieben haben. Der Gelehrte und Humanist schrieb viel – täglich hat er 1000 Wörter zu Papier gebracht. Fast 500 Jahre später ergänzte Bertrand Russel obige Zeilen trocken mit „und die Menschen sind trotzdem nicht ausgestorben“.
Dogmatiker und Fundamentalisten
Noch unter dem Eindruck der beiden Weltkriege, die ihn im 20. Jahrhundert geprägt hatten, meinte Russel auch, dass es wohl keinen Unsinn gäbe, den eine Regierung ihrem Volk nicht einreden könne. Zur Kategorie Unsinn zählte für ihn u.a. der Dogmatismus. „Aber nicht immer entspringt Dogmatismus der Selbstüberschätzung, auch Furcht macht fanatisch; sie ist sogar eine der Hauptursachen für alle Arten von Fanatismus.“
Dogmatiker und Fanatiker aller Welt glauben auch heute, dass sie im Besitz der Wahrheit seien. Natürlich trifft diese Geisteshaltung ebenso auf Fundamentalisten zu. Ihr Weltbild ist gekennzeichnet durch kompromissloses Festhalten an ideologischen Grundsätzen. In dieser Kolumne interessiert nicht die streng religiöse Richtung, auch wenn sie über die Jahrhunderte immer Anlass zu und Auslöser von Bürgerkriegen und Kriegen war und ist. Betroffen sind wir aber in der Schweiz und Europa von den stark polarisierenden Ansichten ihrer politischen Verfechter. Fundamentalismus ist auch gekennzeichnet durch eine gewisse Ablehnungshaltung der Moderne. In einem nicht unwesentlichen Ausmaß als Versuch, diese rückgängig zu machen oder zumindest, die Vergangenheit zu verklären.
Diffuse Weigerung zur Anerkennung des Fremden
Ich bin der Meinung, dass jede menschliche Tendenz, Andersdenkenden seine eigene Überzeugung aufnötigen zu wollen, eine Form von Fundamentalismus – oder subtiler Gewalt – darstellt, die durchschaut werden soll. Gleichzeitig, so scheint es mir, beruht Fundamentalismus auf einer diffusen Weigerung zur Anerkennung des Fremden. Offensichtlich verstärkt die Globalisierung diese Haltung, sei es aus Verunsicherung oder aus einem Gefühl der eigenen Überlegenheit. Das Wiedererstarken von Fundamentalisten weltweit ist gefährlich. Nicht selten verfügen sie über Macht, finanzielle Mittel, rhetorische Begabung und – eine begeisterte Gefolgschaft.
Herrschende bedienen sich des Fundamentalismus zur Manipulierung der Massen, um sie in eine bestimmte Richtung oder in die Irre zu führen. Doch auch Politiker ohne Exekutivbefugnisse verstehen es ausgezeichnet, ihr eingeengtes, persönliches Weltbild zu verbreiten. Fanatiker oder Fundamentalisten können sich immer nur auf eine Idee einlassen. Sie sind davon überzeugt, es gäbe nur einen geraden und richtigen Weg, nämlich ihren eigenen. Für sie zählt ihr versteinertes Weltbild, mögen sich die Welt, die Wissenschaft oder gar Wirtschaft und Politik verändert haben. Darin liegt auch eine gewisse Tragik – ihr Kampf ist längerfristig umsonst.
Genealogie des Unsinns
Seit sich die heilige Inquisition vor rund 400 Jahren mit den Entdeckungen Galileis befasste, wissen wir, dass – wenn die Tatsachen nicht mit der (herrschenden oder persönlichen) Theorie übereinstimmen – es vorerst schlecht steht um die Tatsachen. Die Wissenschaftsgeschichte weist im Übrigen viele Beispiele von Widerstand gegen eine Veränderung der für wahr gehaltenen Theorien auf.
Auch Einstein musste das erfahren. Dies mag damit zusammenhängen, dass sich im Wandel der Zeit die Perspektive, aus Menschen die Wirklichkeit wahrnehmen, verändert (Bsp: „Abzockerinitiative“). Nicht bei allen Menschen. Die Perspektive Rückwärtsorientierter ist natürlich fixiert. Mit dieser Feststellung landen wir bei unserer Genealogie des Unsinns nicht ganz überraschend bei … Epiktet, dem Stoiker. Er soll vor 2000 Jahren in Athen an seiner Philosophenschule die Aussage geprägt haben: „Nicht die Dinge an sich beunruhigen uns, sondern die Meinungen, die wir über die Dinge haben“.
Wir leben alle im Gefängnis
Werfen wir einen Blick auf die Gegenwart. Es ist – bei nicht wenigen politischen Leitfiguren - Mode geworden, die eigene Regierung zu kritisieren. Aus Prinzip, aus taktischen Gründen (Opposition), aus Opportunismus. Die Gefahr besteht, dass dabei vergessen geht, dass alle Regierungen der Welt zwar Fehler, vieles aber auch, nach bestem Wissen und Gewissen, richtig machen. Wenn also diese permanente Kritik täglich medial verbreitet wird (Regierungs-Bashing) und damit sozusagen zur dogmatischen Lehrmeinung selbst verkommt, die prinzipiell eine gegenteilige Meinung als die der Regierenden festschreibt, ist der Langzeiteffekt ungemütlich. Wer über die Jahre - sozusagen pausenlos - behauptet, Regierungsentscheide wären unnötig, schlecht oder falsch, dient weder der Demokratie, noch dem Föderalismus. Er spielt ein falsches Spiel, dessen Ziel die Entfremdung zwischen dem Volk und der Regierung ist. Und seinen persönlicher Machterhalt.
Aus der Gehirnforschung wissen wir, dass jeder von uns im Universum – im Gefängnis – seines eigenen Gehirns lebt. Außer Wärme, Licht, Kraft erfahren wir nichts direkt von der Welt – alles andere ist persönliche Deduktion. Aus einer komplexen Gesamtheit von persönlichen Bildern, genetischen und gespeicherten Erfahrungsinformationen konstruiert jeder von uns seine eigene, sehr persönliche Sicht von innen – eben sein Weltbild.
Wie die Genealogie über die letzten 2000 Jahre zeigt, sind sowohl Widersprüche zwischen Theorien und Tatsachen, als auch alle Versuche, den Mitmenschen seine eigene, persönliche und einzig wahre Weltsicht überzustülpen, äußerst langlebig. Und ebenso lang wird Dogmatismus und Fundamentalismus von Philosophen zur Kategorie Unsinn gezählt und auch er überlebt bestens.