„Rot und Schwarz“ – ein ganzes Minenfeld von Bedeutungen legte mit diesem Titel der französische Autor Marie-Henri Beyle, der unter dem Namen Stendhal berühmt wurde. Der Roman von 1830 aus der französischen Restauration nach Napoleon I. befasst sich hellsichtig und mitleidlos mit der Schilderung eines jungen mittellosen Aufsteigers in der Hierarchie des wiedererstarkten, aber erstarrten Adels.
Die diversen Bedeutungen des Titels sind bis heute nicht ganz geklärt. Stehen Rot und Schwarz für eine Karriere zwischen weltlicher, in diesem Falle militärischer, und klerikaler Macht? Stehen sie für die antagonistischen Formen von leidenschaftlicher Liebe? Oder für das Glücksspiel Rouge et Noir? Einen Hinweis jedoch scheint es zu geben: Auf dem Buchtitel sowohl der Erst- als auch Zweitausgabe des Romans ist „Le Rouge kleingeschrieben, „Le Noir“ hingegen gross und fett.
Die Grundstimmung ist jedenfalls gegeben. Was wird aus einem in der Jugend verprügelten, bürgerlichen und vor allem schönen Jungen, der sich nicht nur aus allen ihm eingebläuten Zwängen befreien will? Er drängt sich mit allen Mitteln nach oben, in die Adelskreise hinein. Sein bevorzugtes Mittel ist die Liebe zu seiner Schönheit, das Begehren sowohl von Mann als auch von Frau. Dabei wird er kälter und härter. Inmitten von Intrigen und höfischen Ränken benutzt er vor allem zwei Frauen, deren Liebe er kalten Herzens gewinnt.
Diese Beziehungen sollen ihm dann auch zum Verhängnis werden. Zum Schluss geht er geradezu gelassen aufatmend in den Tod. „Es gibt keinen Gott. Leer ist es da drinnen, leer!“ Und sein Gönner, der Marquis, sieht den Niedergang seiner Kaste als Analyse einer abgelaufenen Zeit: „Ich bin der Endpunkt. Die Mediokren werden regieren.“
Zeugnis menschlicher Niedertracht
Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie weit ein solcher Lebenslauf mit heutigen Realitäten zu tun hat. Der Druck der Beziehungen, ihre erbarmungslosen Abläufe und Anforderungen in unserer Gesellschaft ähneln durchaus jenen des jungen Sorel im Roman. Ein Autor wie Lukas Bärfuss, der sich – ähnlich wie Stendhal – grübelnd und klarsichtig mit seiner Zeit auseinandersetzt, ist geradezu prädestiniert zur Bearbeitung eines solchen Stoffes.
Was ihn aber von Stendhal absetzt: Bärfuss sieht zwar klar, ist aber nicht teilnahmslos. Er bringt seiner Hauptfigur Julien Sorel trotz aller beschriebenen Abscheulichkeit auch ein gewisses Verständnis entgegen. Das heisst aber nicht, dass er ihn entschuldigt. Die treibende Frage bleibt: Was muss passieren, dass Menschen so werden, wie sie sind?
„Mein Werk ist in weiten Teilen ein Zeugnis für die menschliche Niedertracht und Grausamkeit. Meine besten Jahre verbrachte ich mit dem Studium der Grausamkeit.“ (Bärfuss' Dankesrede zur Verleihung des Büchner-Preises 2019). Der 1971 in Thun geborene Autor musste in seiner Jugend hart unten durch, war auch einige Male obdachlos. Trotz all seiner später einsetzenden Erfolge als Buch- und Theaterautor wurde und blieb er das Enfant terrible der Schweizer Öffentlichkeit. Bärfuss hält nicht zurück mit harscher Kritik an Medien und Gesellschaft. Seine Sprache ist entsprechend flüssig und realistisch und entspricht auch hier Stendhals Zeit, dem Realismus.
Kaleidoskop und Puzzlespiel
An die Realisierung dieses Auftragswerks des Theaters Basel wagte sich die junge, erfolgreiche Tiroler Regisseurin Nora Schlocker, welche in Basel schon mit mehreren Inszenierungen sehr erfolgreich war. Sie folgt dem Text wohltuend deutlich und wenig verklausuliert und vermag, in Zusammenarbeit mit ihrer Bühnenbildnerin Jessica Rockstroh, eine andauernde Bewegung in die Tragödie zu bringen. Es gelingt ihr, mit fächerartig sich öffnenden und schliessenden Tapetenwänden ein unaufhaltsames Perpetuum mobile des Niederganges eines Menschen vor Augen zu führen.
In diesem kaleidoskopartig wechselnden Puzzlespiel der Muster von Wänden und Kostümen (Kostüme: Caroline Rössle Harper) behaupten sich die Darstellenden nicht immer gleich überzeugend, doch grundsätzlich auf hohem Niveau. Dem Premierenapplaus nach zu schliessen, müsste die Produktion als weiteres positives Ereignis in die an Uraufführungen reiche Theaterära Beck in Basel eingehen.
Theater Basel, Schauspielhaus: Julien – Rot und Schwarz von Lukas Bärfuss, nach Stendhal.
Nächste Aufführungen: 22., 25., 31. Januar 2020.