Die Islamische Republik Iran und die USA stehen unmittelbar vor einem Geiselaustausch: fünf iranische Doppelbürger und -Bürgerinnen gegen die Freigabe von sechs Milliarden Dollar blockierten iranischen Guthabens. Für die Biden-Administration ist diese Einigung Teil eines grossen Pakts auf dem Weg der Neuordnung des Nahen Ostens.
Am Anfang stand die Geiseldiplomatie, mit ihr wuchs diese «Republik» auf und mit ihr will sie weiter überleben. Die Islamische Republik war gerade wenige Monate alt, als sie sich mit einer ebenso spektakulären wie beispiellosen Geiselnahme auf der politischen Weltbühne vorstellte: der Entführung von 52 US-Diplomaten, die erst nach 444 Tagen und sehr schwierigen Verhandlungen freikamen.
Diese Art der «Diplomatie» blieb in den folgenden Jahren eine Konstante der Aussenpolitik Teherans – vor allem, wenn es um die Beziehungen zum Westen ging. Nicht nur die USA, sondern auch europäische Staaten mussten in den vergangenen vier Dekaden über irgendeine Geiselaffäre mit den Mächtigen in Teheran verhandeln. Worum es jeweils ging und was am Ende im Einzelnen herauskam, ist eine andere, lange, komplizierte und fast unendliche Geschichte. Und diese Geschichte dauert an.
Ein EU-Diplomat als Faustpfand
Dieser Tage ist von dem 33-jährigen Schweden Johan Floderus die Rede, der seit mehr als 500 Tagen in Teheran inhaftiert ist. Sein Fall ist auch ein EU-Problem. Denn Floderus arbeitete für das diplomatische Corps der Europäischen Union. «Schweden und das Aussenministerium sind zwar für seine Freilassung verantwortlich, doch die EU hat auch die Verantwortung eines Arbeitgebers und die Möglichkeit, Druck auszuüben», sagte die EU-Kommissarin Ylva Johansson am vergangenen Dienstag. Wenige Stunden später sagte Josep Borrell, EU-Koordinator für Aussenpolitik und quasi Arbeitgeber von Floderus: «Wir werden nicht aufgeben, bis Johan freigelassen wird.»
Was Borrell für die Freilassung seines Mitarbeiters anbieten kann und wird, bleibt sein Geheimnis. Wir wissen aber, was die Teheraner Machthaber unbedingt erreichen wollen: die Freilassung von Hamid Nouri, einem Mitglied jenes berüchtigten Teams, das 1988 im Iran binnen weniger Tagen mehrere tausend Oppositionelle ermordete. Nouri war während einer Reise in Stockholm festgenommen und dort später zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Mit Floderus hat die Islamische Republik nun zwei schwedische Geiseln. Zuvor war Ahmad Reza Jalali, ein 52-jähriger schwedisch-iranischer Wissenschaftler und Forscher verhaftet und wegen «Korruption auf Erden» im Iran zum Tode verurteilt worden. Jalali ist verheiratet und Vater von zwei kleinen Kindern, er war als Katastrophenmediziner und Dozent am Karolinska-Institut in Stockholm und als Gastprofessor an der Freien Universität Brüssel tätig.
Freipressung eines Topterroristen
Mit Brüssel hat die Islamische Republik offenbar sehr gute Erfahrungen damit, was sie durch Geiselnahmen erreichen kann. Vor drei Monaten kam nach 455 Tagen in Haft der Belgier Olivier Vandecasteele frei. Mit ihm wurde ein in Belgien rechtskräftig verurteilter Terrorist freigepresst.
Auch dieser Fall war eine gesamteuropäische Affäre, in die nicht nur Belgien, sondern auch Österreich, Deutschland und Frankreich verwickelt waren: Der Freigepresste, der in Teheran vom Sprecher der iranischen Regierung empfangen wurde, heisst Assadollah Assadi. Er war als «Diplomat» in Österreich akkreditiert und wurde in flagranti nach einer Bombenübergabe an seinen in Belgien lebenden Agenten auf einer Autobahn in Deutschland verhaftet. Mit der hochexplosiven Bombe sollte in Paris eine Grossveranstaltung der iranischen Opposition in die Luft gesprengt werden.
Und nicht nur verurteilte Terroristen, auch blockierte Gelder können durch Geiselnahmen freigepresst werden, lernten die Mächtigen in Teheran während ihrer vierzigjährigen Herrschaft. Oft ging es um Milliarden.
Fünf Doppelbürger gegen sechs Milliarden Dollar
Vergangenen Monat erzielten Washington und Teheran eine Einigung über die Freilassung von fünf im Iran inhaftierten Doppelbürgern. Im Gegenzug sollen die Teheraner Machthaber sechs Milliarden US-Dollar blockierter Öleinnahmen erhalten. Die Umstände dieses noch nicht ganz abgeschlossenen Deals sprechen Bände – über grenzenlose Menschenverachtung ebenso wie über die US-Diplomatie gegenüber Teheran.
Als Siamak Namazi im Sommer 2015 nach Teheran reiste, war gerade ein bahnbrechendes Atomabkommen unterzeichnet worden, und die iranische Regierung ermutigte Auslandsiraner nach Hause zurückzukehren und ihr Fachwissen und ihr Geld mitzubringen.
Also flog der 51-jährige iranisch-amerikanische Geschäftsmann nach Teheran, um seine Verwandten zu besuchen und an einer Beerdigung teilzunehmen.
Doch er wurde verhaftet und der «Zusammenarbeit mit einer feindlichen Regierung» angeklagt. Anfang dieses Jahres trat er in einen Hungerstreik, um auf sein Leid aufmerksam zu machen.
«Ich bin seit siebeneinhalb Jahren eine Geisel – das ist sechsmal so lang wie die Geiselkrise», sagte Namazi im März 2022 in einem Interview, das er aus dem Gefängnis mit dem Nachrichtensender CNN führte. Mit «Geiselkrise» meinte er die Affäre um die 52 US-Diplomaten, deren 444-tägige Geiselhaft als lange Geburtswehe der islamischen Revolution in die Geschichte einging.
«Wir wurden aus einem einzigen Grund festgenommen – und zwar weil wir US-Bürger sind», so Namazi. Dass er aus dem berüchtigten Evin-Kerker live mit einem US-Sender sprechen durfte, offenbart die perfide Strategie seiner Geiselnehmer für mehr Druck auf die US-Administration.
2016, ein Jahr nach Simaks Inhaftierung, lockte man seinen Vater Bagher mit dem Versprechen nach Teheran, er könne seinen Sohn sehen. Auch der 87-Jährige wurde wie sein Sohn verhaftet und ebenfalls zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Die Namazis sind eine bekannte und sehr angesehene Familie aus Schiraz. Ein von der Familie gebautes Krankenhaus, ein grosser Boulevard und mehrere karitative Einrichtungen in dieser Stadt tragen noch heute ihren Namen. Der Vater, Bagher Namazi, war vor der Revolution Gouverneur der Provinz Khuzestan und arbeitete in den letzten Jahren für Unicef in vielen Ländern der Welt in leitenden Positionen.
Verhandlungsmasse Mensch
Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands durfte der ältere Namazi im Oktober 2022 den Iran verlassen, um sich behandeln zu lassen. Zur «Verhandlungsmasse» dieses Milliardendeals gehören auch Emad Sharghi, 58, Morad Tahbaz, 68, und zwei weitere anonyme Personen.
Emad Sharghi, der iranisch-amerikanische Geschäftsmann, wurde vor fünf Jahren während einer gemeinsamen Reise mit seiner Frau zum Familienbesuch im Iran festgenommen und ins Evin-Gefängnis gebracht. Morad Tahbaz, Naturschützer und Mitbegründer der «Persian Wildlife Heritage Foundation», ist in London geboren und besitzt neben der US-amerikanischen auch die britische Staatsbürgerschaft. Vor drei Jahren wurde er wegen Spionagevorwürfen im Iran zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Die beiden anderen aus der «Verhandlungsmasse» bleiben deshalb anonym, weil die US-Regierung auf Wunsch ihrer Familien ihre Namen nicht bekannt gibt. Nach unbestätigten Informationen handelt es sich um einen Geschäftsmann aus Kalifornien, der vor fast einem Jahr festgenommen wurde, sowie um eine Frau, die für Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan gearbeitet hat.
Dubiose Vermittler und Winkeladvokaten
Dieser anvisierte Gefangenenaustausch ist offenbar ein kleiner Teil einer grossen Diplomatie der Biden-Administration.
Zunächst geht es dabei um die sechs Milliarden US-Dollar iranischen Guthabens, die seit Jahren bei südkoreanischen Banken blockiert sind. Schon die formelle Freigabe dieser Summe zeigt die Verworren- und Verrücktheit der Situation. Das Geld soll nur für humanitäre Zwecke verwendet werden. Doch auf welches Konto bei welcher Bank sollen die Milliarden überhaupt überwiesen und wie deren Verwendung kontrolliert werden? Weil die Islamische Republik keine Geschäfte mit US-Dollar betreiben darf, muss die Summe, umgetauscht in eine andere Währung, zunächst auf ein Treuhandkonto bei einer schweizerischen Bank und später einer Bank in Katar überweisen werden. Erst dann ist der beschränkte Zugang Teherans zu dem Geld möglich.
Bei diesen Transaktionen verdienten die verschiedenen Unterhändler fast eine Milliarde Dollar für Umtausch-, Überweisungs- und Vermittlungsgebühren, bilanzierte vor drei Wochen die Teheraner Tageszeitung «Etemad». Es ist fast Normalität, dass bei jeder Geiselaffäre auch dubiose Zwischenhändler und Winkeladvokaten Millionen verdienen.
Für die Freilassung der 52 US-Diplomaten hatte man die Freigabe von acht Milliarden Dollar iranischen Guthabens vereinbart. In Wahrheit kamen aber nur drei Milliarden in den Kassen der revolutionären Macht an. Die restlichen fünf Milliarden blieben aus unterschiedlichen, zum Teil fadenscheinigen Gründen bei US-Banken.
Mit Fussfesseln auf die Abreise warten
Wie viel Geld diesmal tatsächlich in Katar landet, ist ungewiss. Nichts sei bis jetzt angekommen, sagte vor zehn Tagen der iranische Aussenminister. Ob die Tortur für die amerikanischen Gefangenen und ihre Familien im September tatsächlich endet und ihre geplante Abreise aus dem Iran stattfinden kann, ist deshalb ungewiss. Die fünf Geiseln wurden vorerst aus dem Gefängnis entlassen. Mit elektronischen Fussfesseln ausgestattet, stehen sie in einem Teheraner Hotel unter Hausarrest und warten ab.
Neuordnung des Nahen Ostens per Geiselgeschäft
Der Gefangenendeal sollte die Mächtigen in Teheran zu mehr Kompromissen beim Atomkonflikt bewegen, die Zusammenarbeit zwischen Washington und Teheran in der gesamten Region verbessern und irgendwann eine gewisse Normalität erzielen – so jedenfalls die Hoffnung der Biden-Administration.
Diese Diplomatie-Offensive ist Teil eines noch grösseren Nahost-Pakets, mit dem auch der chinesische Vormarsch im Nahen Osten gestoppt werden soll. Denn Pekings spektakuläre Vermittlung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran signalisiert eine vorübergehende Neuordnung der üblichen Allianzen und Rivalitäten.
Die Garden, die Geiseln und das Geld
Ob die Teheraner Geiseldiplomatie dann ein Ende findet? Folgender legendäre Satz bleibt jedenfalls in Erinnerung: «Seien Sie sicher, mindestens tausend Amerikaner nehmen wir in den ersten Tagen als Geiseln und Amerika wird gezwungen sein, für jeden von ihnen mehrere Milliarden zu zahlen: Damit lösen wir zugleich auch unsere Wirtschaftsprobleme.»
Ein verrückter Satz aus dem Mund eines Verrückten, den man ruhig überhören kann, möchte man sagen. Doch Hinhören ist vonnöten. Denn dieser ungeheuerliche und masslose Satz ist eine ernsthafte militärische Überlegung aus berufenem Munde, gestützt auf zahlreiche Erfahrungen und «Erfolge».
Es ist Samstagabend am 11. Juli 2015, die Hauptnachrichten des iranischen Staatsfernsehens berichten ausführlich, die Atomgespräche seien wieder in eine Sackgasse geraten. In den USA ist von verschiedenen Optionen gegen den Iran die Rede. Der Studiogast, Mohsen Rezai, soll als sachkundiger Experte all das kommentieren und eine mögliche Reaktion der Islamischen Republik darlegen. Für das staatliche Fernsehen ist Rezai ein kompetenter Interviewpartner, ein Mann der Tat. Und das zurecht: Rezai war von 1981 bis 1997 oberster Kommandant der Revolutionsgarden. Diese 16 Jahre waren für die Islamische Republik eine schwierige und schmerzvolle Entstehungsphase und eine Zeit der Machtkonsolidierung. Verwickelt in einen mörderischen Krieg mit Irak und konfrontiert mit weiteren unzähligen aussen- und innenpolitischen Konflikten und Krisen sollten Rezais revolutionäre Verbände die neu gewonnene Macht sichern.
In den vergangenen vier Dekaden waren es stets die Revolutionsgarden, die in der Geiseldiplomatie das letzte Wort hatten. Und sie lenkten immer dann ein, wenn die freizupressende Person oder Geldsumme mit Sicherheit im Iran angekommen war. Vergangenen Sonntag berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, US-Aussenminister Antony Blinken sei optimistisch bezüglich der Rückkehr der Doppelstaatler in die USA.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal