Wissenschaftliche Fachzeitschriften mahnen, Forschung dürfe niemanden stigmatisieren, sondern müsse Würde und Rechte aller Menschen respektieren. Was aber nicht publiziert werden darf, wird auch nicht erforscht. – Als ob sich Missbrauch von Wissenschaft damit verhindern liesse!
Genetische Forschung über Intelligenz ist ein heisses Eisen. Der schottische Neuropsychologe Stuart Ritchie wollte zum Beispiel untersuchen, wie Intelligenztestresultate mit der Alzheimerkrankheit korrelieren – ein statistisches Mainstreamverfahren. Ritchie konsultierte dazu die Website des amerikanischen National Institute of Health (NIH), das über eine grosse Alzheimer-Datenbank verfügt. Und er stiess unversehens auf ein Verbot, Alzheimerdaten in genetischen Studien über Intelligenz zu verwenden.
Wokeness auch in der Wissenschaft?
Er las unter anderem: «Beachten Sie bitte, das diese Überblicksdaten nicht verwendet werden dürfen für Studien über die Genetik der Intelligenz (…) oder potenziell sensibler Verhaltensmerkmale wie Alkoholismus und Drogenabhängigkeit (…) Die Verbindung genetischer Daten mit jedem dieser Parameter kann Individuen oder Gruppen (…) stigmatisieren. Jede Art von Stigmatisierung, die mit genetischen Daten korreliert werden könnte, steht im Gegensatz zur Politik des NIH.»
Ritchie ist kein Einzelfall. Das muss alarmieren. Greift heimlich eine Zensur Platz? Infiltriert der Geist der Wokeness nun auch die Wissenschaft? Es fällt jedenfalls auf, wie Fachzeitschriften den potenziellen Autoren eifrig eine «ethische» Haltung anmahnen. Das Journal «Nature Human Behaviour» formulierte zum Beispiel im August 2022 explizite publizistische Verhaltensregeln, unter dem Titel «Wissenschaft muss die Würde und die Rechte aller Menschen respektieren». Redaktionsleitungen, Herausgeber, Gutachter von Fachliteratur sehen sich offenbar zunehmend einem Überwachungsblick ausgesetzt, der zwar nicht genau lokalisierbar ist, dafür aber umso genauer auf «Verletzungen» eines umherspukenden Korrektheitskodex achtet.
Faktoren, die das Erbgut «verschlechtern»
Nun kommt diese Anmahnung nicht von ungefähr. Die Intelligenzforschung neigt notorisch zu «stigmatisierendem» Ideengut, seit den Anfängen der Populationsgenetik bei Francis Galton. Und immer wieder dient sie Extremisten als Legitimation ihrer Schandtaten. Im Mai 2022 erschoss ein weisser Teenager zehn Schwarze in einem Supermarkt in Buffalo. Der Amokschütze begründete seine Tat in einem langatmigen Manifest. Darin spielt zumal die heute gängige Verschwörungsflunkerei des «Grossen Austauschs» von Weissen durch Schwarze eine Rolle.
Für wie wirr und abgedreht man die Idee halten mag, sie findet auch in der Wissenschaft ihre Sympathisanten, etwa Michael Woodley, den das Manifest zitiert. Der Brite Woodley ist von Haus aus Pflanzenökologe, dehnte aber sein Forschungsinteresse auf die genetischen Grundlagen der Intelligenz aus. Insbesondere richtet er sein Augenmerk auf die Dysgenik, auf Faktoren, die das Erbgut «verschlechtern». In einem Artikel befasst er sich mit dem Sinken des durchschnittlichen Intelligenzquotienten in Frankreich zwischen 1999 und 2009. Dabei erwägt Woodley als hypothetische Ursache auch die Immigration von Populationen mit «dysgenischer Fruchtbarkeitsrate».
So abgehoben das klingt, so verständlich wird die Botschaft für den dümmsten Rassisten, wenn man sie folgendermassen übersetzt: Menschen mit schwach intelligentem Erbgut vermehren sich stark. All dies erinnert natürlich an Thilo Sarrazins verdrehte Unkerei über ein Deutschland, das sich abschaffe.
Das Dilemma der Forschungsfreiheit
Hier bricht ein latentes Dilemma auf: Forschungsfreiheit ist fundamental, aber schützt nicht vor Missbrauch. Schränkt man sie deswegen ein, ist sie nicht mehr fundamental. Das Dilemma kennzeichnet jede Disziplin in einer offenen Gesellschaft. Nur scheint gegenwärtig ein Klima vorzuherrschen, das die Offenheit herausfordert, indem der geringste Verdacht auf eine «schlechte Haltung» gleich zum Verdikt «Canceln!» führt.
Das stellte ein Editorial der Zeitschrift «Nature» bereits 2017 fest: «Einige Kritiker fürchten, dass Forschung über die Genetik der Intelligenz (…) erneut die hässlichen Flammen der Vergangenheit anfachen und für zweifelhafte zukünftige Zwecke missbraucht würden. Gewiss, die unerwünschte Gesinnung bleibt, die der Intelligenzforschung ihren schlechten Ruf verlieh, und dubiose Forschung wird auf bestimmten Gebieten weiterbestehen. Aber Intelligenzforschung muss nicht von ihrer Vergangenheit zurückgehalten werden.»
Drei wissenschaftliche Steigerungsformen
Die Wissenschaft kann und soll das Dilemma nicht verdrängen. Sie kann es hingegen in ihr Forschungsethos aufnehmen. Ich verstehe das so: Das Verständnis des Zusammenhangs von Genetik und kognitiven Fähigkeiten hat sozusagen drei wissenschaftsinterne Steigerungsformen. Dass beide zusammenhängen, ist heute selbstverständlich. Schwerer verständlich ist, wie sie zusammenhängen. Und am schwersten verständlich ist, warum sie so zusammenhängen. Man könnte das Feld der genetischen Intelligenzforschung ziemlich neutral als den Fragenkomplex von Dass, Wie und Warum definieren.
Nun gibt es allerdings eine vierte, wissenschaftsexterne Steigerungsform: die rassistische, sexistische, suprematistische Deutung von Forschungsergebnissen. Vor ihr kann die Intelligenzforschung die Augen nicht verschliessen. Selbstverständlich richtet sie nichts aus gegen den von Wahnideen Befallenen. Er gehört einer belehrungsimmunen Minderheit an. Aber er ist gerade aus dieser verbohrten minoritären Position heraus imstande, das Klima der Wissenschaftsfreiheit zu kontaminieren. Richard Haier – Chefredaktor des Journals «Intelligence», in dem auch Woodley publizierte – stellt das in einem Editorial 2020 klar fest: «Wenn man bestimmte Themen nicht publiziert, verschafft man nur verschwörungstheoretischen Erklärungen Geltung wie ‘Sie wollen nicht, dass wir es wissen’.»
Frage nach der genetischen Komponente
Das ist die eine heikle Schnittstelle von Intelligenzforschung und Öffentlichkeit. Eine andere ist die Gentechnik. Zwar hat sich seit Richard Dawkins Ausrufung der Herrschaft der Gene die Hochstimmung über die erbliche Determiniertheit des Menschen etwas gelegt, dennoch eröffnet die Gentechnologie die Aussicht auf eine Intelligenz nach «Design und Mass». Und sie weckt nicht nur entsprechende Begehrlichkeiten – etwa im Transhumanismus –, sondern auch Befürchtungen über Missbrauch, zum Beispiel einer «Eugenik» der Intelligenz.
Solche Befürchtungen sind keine Bagatellen. Die Idee der Eugenik und Dysgenik hockt – wie Figura zeigt – in Wissenschaftlerköpfen. Sie lässt sich nicht verbieten. Trotzdem ist Nüchternheit angesagt. Intelligenz erweist sich als ein überaus komplexes Phänomen, und die Frage, welchen Beitrag die genetische Komponente leistet, ist alles andere als geklärt. Gerade deshalb muss man genetische Intelligenzforschung betreiben. Sie führt nicht zu genetischer «Determiniertheit», sondern ist ein unverzichtbares Antidot gegen die ständig drohende Ideologisierung durch «terribles simplificateurs», die es nota bene auch in der Wissenschaft gibt.
Moralisierende Gängelung der Neugier
Die publizistische Politik der vorauseilenden Vorsicht fällt auf den Slippery-Slope-Fehlschluss herein: Weil Forschung potenzielle negative Folgen hat, sollte man sie nicht betreiben. Man stelle sich vor, ein Wissenschafter müsste, bevor er sich an die Arbeit macht, alle möglichen Missdeutungen seitens Rassisten, Extremisten oder sonstwie Derangierten in Betracht ziehen. Er könnte das Forschen auch gleich bleiben lassen. Und genau das wäre der grösste Erfolg von Hassgruppen: nicht bloss ein faktisches Vetorecht darüber, was publiziert wird und was nicht, sondern die moralisierende Gängelung der Neugier. Das wäre der Anfang vom Ende der Wissenschaft, wie wir sie kannten.