Es war eine leidenschaftliche Rede, mit der sich Ursula von der Leyen den Europa-Parlamentariern empfahl. Sie zog alle Register und wollte es auch allen etwas recht machen. Doch wer ihr das vorwirft, denkt nicht politisch, nicht strategisch und nicht taktisch. Natürlich musste sie den Sozialdemokraten und den Liberalen einige Knochen hinwerfen. Hätte sie es nicht getan, wäre sie nicht gewählt worden. Selbst die italienischen Rechtspopulisten hat sie mit einem ganz winzigen Satz geködert. Wo es nötig sei, müsse der Stabilitätspakt „mit aller Flexibilität angewandt werden, die seine Regeln erlauben“.
Vor allem aber war ihr halbstündiger Auftritt in Strassburg ein glaubwürdiges Plädoyer für ein funktionierendes, glaubwürdiges Europa. Die Rede gipfelte in dem Satz: „Wer Europa spaltet und schwächen will, findet in mir eine erbitterte Gegnerin.“ Die 60-Jährige erweckte den Eindruck, dass sie mit Verve für dieses europäische Projekt kämpfen will. Es war nicht einfach eine der sattsam bekannten Wahlkampfreden, wie wir sie von unseren Politikern kennen – garniert mit vielen Versprechungen, die man nach der Wahl dann still versanden lässt.
Ihre Marschrichtung überzeugt. Sie will endlich dafür kämpfen, dass Europa in der Flüchtlingsfrage eine einheitliche Politik findet. Sie will den Klimaschutz radikal fördern, den Frauen mehr Macht geben und die Wirtschaft mit Investitionen ankurbeln. Und vor allem legt sie ein klares Bekenntnis zur Achtung der Rechtsstaatlichkeit ab. Den Regierenden in Warschau und Budapest gefällt das gar nicht.
Die abtretende Verteidigungsministerin übernimmt einen der schwierigsten Jobs, den es gibt. 27 kulturell und politisch teils grundverschiedene Staaten unter einen Deckel zu bringen, scheint fast ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist simpel, die Unzulänglichkeiten der EU zu kritisieren. In manchen Staaten gilt die Union als Sündenbock. Statt vor der eigenen Haustür zu wischen und die eigenen Probleme zu lösen, macht man die EU für den Ärger im eigenen Land verantwortlich.
Und dennoch: die EU mit ihren müden Spitzenbeamten ist arg revisionsbedürftig. Sie ist zu einem schwerfälligen Koloss verkommen, in der viele Leute das Sagen haben, die man im eigenen Land nicht gebrauchen kann. Wenn die EU weiterhin ernst genommen werden will, braucht sie tiefgreifende Strukturreformen. Ursula von der Leyen scheint dies erkannt zu haben. Ob sie reüssieren wird, ist eine andere Frage. Denn auch in Europa entscheidet letztlich nicht die Exekutive, sondern das Parlament. Von der Leyens Hauptaufgabe wird es sein, die Parlamentarier hinter sich zu scharen.
Der Luxemburger Jean-Claude Juncker hat – im Rahmen des Möglichen – nicht allzu schlechte Arbeit geleistet. In jüngster Zeit wirkte er jedoch ausgebrannt und begnügte sich vor allem damit, jede Frau, die ihm über den Weg lief, abzuküssen.
Jetzt weht ein neuer Wind. Von der Leyens Start ist geglückt, sie zeigt sich energiegeladen, sie verspricht Aufbruch, Leidenschaft und Engagement für Europa. Vielleicht ist sie die Beste, die sich die EU wünschen konnte. Ob sie allerdings das taumelnde Schiff aufrichten kann, steht längst noch nicht fest. Das äusserst knappe Wahlergebnis zeigt, wie zerrissen die EU ist und wie schwierig ihre Aufgaben sein wird.