Findet die Zukunft ohne die Schweiz statt?, fragt Zollinger. Der Westen treibe das Land vor sich hin. Oft könne die Schweiz nicht mehr selbst handeln. Sie könne nur noch auf Wünsche und Forderungen von aussen reagieren.
Die Schonfrist gehe zu Ende. Noch vor kurzem sei der Bankenplatz Schweiz ein Fels in der Brandung gewesen.“ Jetzt bröckelt der Fels. Das Bankgeheimnis ist faktisch gefallen. Die Schweiz wird immer mehr als Rosinenpicker bezeichnet und kommt mehr und mehr unter Druck.“
„Allein gegen Europa, allein gegen die Welt“
Der Autor fordert, dass sich die Schweiz den neuen Herausforderungen stellt. Doch statt dies zu tun, würden wir uns verhalten, als habe sich die Welt nicht verändert. „Wir betreiben eine Kirchturmpolitik und pflegen den Kantönligeist“, sagte Zollinger an der Buchpräsentation in Zürich. Das Land brüste sich mit seinem Alleingang und beschwöre den „Sonderfall Schweiz“. „Allein gegen Europa, allein gegen die Welt“.
Zollinger, Publizist und Unternehmensberater, verlangt: „Die Schweiz muss sich neu erfinden“. Sie müsse zurückfinden zu Innovation und Flexibilität. Politische, wirtschaftliche und institutionelle Reformen dürften nicht länger auf die lange Bank geschoben werden. „Packen wir die heissen Eisen an! Warten wir nicht, bis das Dach über uns zusammenbricht“.
Seit Mitte der Achtzigerjahre analysiert Zollinger die Veränderungen in der Schweiz, in Europa und der ganzen Welt. Mit seinen Kolumnen, die zum Teil auch im Journal21 erscheinen, will er einen Beitrag zur Veränderung leisten – „bevor wir zu Veränderungen gezwungen werden“.
Gegen die Idealisierung vergangener Zeiten
Unsere Sicht sei ständig nur nach innen gerichtet. Tatsächlich aber laufe „what happens“ draussen in der globalisierten Welt ab. Rechtsnationale Kreise würden unermüdlich die Fahne hochhalten: „Wir gegen die Vögte, gegen fremde Richter, gegen ausländische Bedrohung“.
Das sei einst ein bewährtes und erfolgreiches Geschäftsmodell gewesen. Doch heute sei das romantische Klischee von wehrhaften Männern in den Bergen und dem Reduit-Mythos überholt. Der Widerstand gegen die Welt draussen sei wirkungslos. Ebenso die Idealisierung der vergangenen Zeiten.
Die „Milch Party“
Die Wirtschaft diktiere heute der Schweiz, inklusive dem Bundeshaus, wo es lang gehe, sagt Zollinger in einem Gespräch während der Buchvernissage. Er will kein Miesmacher sein. Er kritisiere, „weil ich unser Land sehr gern habe. Ich finde sogar, es geht uns vergleichsweise gut. Doch damit das auch in Zukunft so bleibt, müssen wir aus der Schockstarre erwachen“.
Eine Breitseite kriegen auch Christoph Blocher und seine Kumpanen ab. In den USA sei die „Tea Party“ Symbol des rückwärtsgerichteten Denkens. In der Schweiz müsste man sie „Milch Party“ nennen. Zollinger wirft der SVP vor, dass sie beanspruche, die alleinige Partei zu sein, die Recht habe und behaupte, ihr Weltbild sei „das einzig richtige“. Demagogisches Auftreten, leidenschaftliche Reden, um das Volk aufzuwiegeln – dazu brauche es rhetorische Fähigkeiten und ein dickes Portemonnaie.
Sanierung von Grund auf
Statt Reformen anzupacken, würden wir in Strukturen verharren, die längst Rost angesetzt haben. Unser „Schweizerisches Haus des Föderalismus“ müsse nach 160 Jahren von Grund auf saniert werden.
Analysieren ist das eine – konkrete Massnahmen vorschlagen das andere. Was sollte seiner Meinung nach konkret angepackt werden?
Napoleon sei der letzte gewesen, der der Schweiz eine tiefgreifende Erneuerung aufoktroyiert habe. Die zerstrittene Schweiz sei aus eigener Kraft dazu nicht in der Lage gewesen. „Heute brauchen wir keine Revolution, um ein zeitgemässes Modell der Schweiz zu etablieren. Wir sind dazu selbst in der Lage“.
Das Ständemehr – ein Bremsklotz
Zollinger plädiert für grundlegende institutionelle und konstitutionelle Reformen. Das Ständemehr sei zum „verrosteten Strukturerhaltungssystem degeneriert“. Es sei vor 160 Jahren eingeführt worden zum Schutz der kleinen katholischen Kantone, die im Sonderbundskrieg unterlegen waren. Heute gebe es in der Schweiz mehr Katholiken als Reformierte. Das Ständemehr sei heute zu einem Bremsklotz geworden.
Im Weiteren sagt der Autor dem „Kantönligeist“ den Kampf an. Es brauche neue, Kantonsgrenzen überschreitende Kompetenzzentren. „Da sich die Kantone nicht einigen können“, könnte er sich sechs grosse Regionen mit eigenen Kompetenzzentren vorstellen.
Plädoyer für einen Thinktank
Warum würde in der Schweiz, so fragt er, in 2400 Gemeinden noch immer mit Strukturen von 1848 gewerkelt? Es brauche Gemeindefusionen und lokale Verwaltungs- und Exekutivzentren.
Weiter wendet er sich gegen die Pauschalbesteuerung für Ausländer. „Warum müssen Ausländer bei uns einen Bruchteil an Steuern bezahlen, die wir Schweizer selbst berappen müssen“, fragt er.
Seit 20 Jahren sei jeder Versuch einer Regierungsreform im Sande verlaufen. Zollinger schlägt die Schaffung eines Thinktanks vor. Bereits bestehende Thinktanks stehen seiner Meinung nach allzu sehr im Dienste der Wirtschaft.
Für den Thinktank, den er vorschlägt, hat er bereits einen Namen: „Svizzeravanti“. Beteiligt daran sollten Hochschulen sein, aber auch die Politik und die Wirtschaft. Ziel wäre es, Szenarien zu erarbeiten, um „ein modernes helvetisches, der Nachhaltigkeit verpflichtetes Geschäftsmodell“ zu erarbeiten.
Christoph Zollinger: Mythen, Macht + Menschen – Gegen Populismus und andere Eseleien, Conzett Verlag Zürich, ISBN 978-3-03760-031-3