Das Geschichtsverständnis und die von den Historikern angewandte Methode sind ganz wesentlich geprägt vom deutschen Historiker Leopold von Ranke. Wissenschaftstheoretisch nennt sich die Art, wie Historiker noch heute schwergewichtig arbeiten, Hermeneutik (gr. = frei übersetzt: interpretierende Methode). Die Methode ist alt und hat sich bewährt, weil sie flexibel und doch intersubjektiv überprüfbar und damit wissenschaftlich ist. Diese Methode unterscheidet sich fundamental von z. B. der Medizin (Empirie).
Die Methode des Historikers
Das Ziel der Geschichtswissenschaft besteht nicht darin, eine Theorie zu entwickeln, sondern Fakten der Vergangenheit mit Fragen aus der Gegenwart zu konfrontieren und aus der Zeit heraus zu interpretieren. Wir dürfen mit aktuellen Fragestellungen an die Vergangenheit treten. Je nach Fragestellung sprechen diese Fakten dann anders zu uns. Was wir aber nicht dürfen, ist mit Werten und Vorstellungen aus der Gegenwart Fakten aus der Vergangenheit filtern, damit historische Figuren beurteilen, moralisch verurteilen und die relevanten Fakten anhand von vorgefertigten Theorien auswählen.
Wir dürfen auch nicht Quellen weglassen, die allenfalls der Meinung/Theorie des Autors widersprechen. Das Interpretieren und der Anspruch der intersubjektiven Überprüfbarkeit erlauben sehr wohl klare Stellungnahmen, die sich aus der Interpretation der Faken erschliessen. Allerdings sollte der Historiker sich in Bezug auf moralische Urteile Zurückhaltung auferlegen, denn diese sind immer auch von der jeweiligen Zeit bedingt, also «aus heutiger Sicht» formuliert und daher tendenziell ahistorisch und intersubjektiv schlecht überprüfbar.
Geschichtswissenschaft geht also nicht von vorgefertigten Geschichtsbildern aus und ist idealerweise vorurteilsfrei. Man darf also mit Fragen der Gegenwart an die Vergangenheit treten. Man darf und soll zum Beispiel die Geschichte der Sklaverei schreiben, was man aber nicht darf ist, mit dem heutigen Wissen, Ereignisse, Menschen und Ideen der Vergangenheit beurteilen und verurteilen.
Beispiel: der 20. Juli 1944 und dessen Interpretation
Machen wir ein Beispiel. Vor vielen Jahren führte ich eine Diskussion über die Frage, inwiefern die Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944 gegen die Kriegs- und Gewaltpolitik Hitlers und seines Naziregimes eine Vorbildfunktion haben kann und sollte. Rezeptionsgeschichtlich wirkt bis heute die Nazipropaganda nach, die Graf von Stauffenberg und die Verschwörer des 20. Juli als feige Landesverräter schmähten, die Deutschland in Zeiten höchster Not in den Rücken gefallen seien.
Auch im Ausland war das Echo auf das Attentat eher verhalten bis negativ. Es wurde wahlweise als Tat ehrgeiziger Offiziere oder als Abrechnung unter Verbrechern bezeichnet. Mein Gesprächspartner nahm ebenfalls eine sehr reservierte Position ein mit der Begründung, bei den handelnden Offizieren habe es sich nicht um wirkliche Demokraten gehandelt. Diese könnten deshalb keinesfalls als Vorbild dienen. Das ist das Gleiche, wie wenn man fordert, Woodrow Wilson aus den Geschichtsbüchern zu tilgen, weil er angeblich ein Rassist war, und wenn man ihm deshalb seine historische Bedeutung für die Entscheidung des Ersten Weltkriegs und die Nachkriegsordnung abspricht.
Man darf den 20. Juli kritisch würdigen, man darf die Fragen an die damalige Zeit aus heutiger Sicht formulieren, aber man darf nicht mit heutigem Wissen urteilen. Das lernt ein Geschichtsstudent im ersten Semester, im Proseminar, bei der Einführung in die eingangs erwähnte hermeneutische Methode. Auf unser Beispiel angewendet heisst das, dass bei einer Befragung der Ereignisse um den 20. Juli 1944 alle relevanten Fakten zum Attentat und zu dessen Entstehung einbezogen werden müssen, dass aber das, was danach kam, bei unserer Beurteilung keine Rolle spielen darf. In der Weimarer Republik gehörten eine Mehrheit der Reichstagsabgeordneten keinen demokratischen Parteien an. Von den grösseren Parteien war lediglich die SPD lupenrein demokratisch – die Demokratie hat in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg breit Wurzeln geschlagen.
Bei den Attentätern des 20. Juli handelte es sich um Aristokraten, um gebildete Offiziere, die in höchster Gewissensnot gehandelt haben, wissend, dass die Nachwelt sie kontrovers beurteilen würde. Wendet man die Schablone «demokratisch oder nicht» an, dann kann man die historische Bedeutung dieses Ereignisses nicht ermessen und nicht sachgerecht beurteilen. Was wäre geschehen, wenn das Attentat gelungen wäre, und wie würde die Welt heute aussehen? Man weiss es nicht und es ist auch nicht die Aufgabe des Historikers, über die Frage zu spekulieren: «Was wäre geschehen, wenn?». Das ist unwissenschaftlich – auch das lehrt schon das Proseminar. Wie hätten sich die Attentäter verhalten, wenn sie überlebt hätten? Da haben wir immerhin einen Hinweis. Ein Überlebender, Fabian von Schlabrendorff wurde später Richter am westdeutschen Bundesverfassungsgerichtshof.
«Canceln»: der neumodische Bildersturm
Das neumodische «Canceln» und die nicht mehr so neumodischen Ansprüche der politischen Korrektheit bewirken in Bezug auf historische Vorgänge genau das: dass man eine Denkschablone anlegt (Rassismus, Sexismus usw.), in der Form, wie sie gerade in Mode ist und damit Ereignisse, Fakten und historische Figuren aus der Sicht des 21. Jahrhunderts und nicht aus der Zeit heraus beurteilt und filtert. So kommt es, dass man heute in Amerika Statuen von Kolumbus vom Sockel stürzt.
Man fühlt sich an den Bildersturm in der Reformationszeit erinnert, wo zum Beispiel Figuren aus dem Berner Münster entfernt und zum Aufschütten der Münsterplattform verwendet wurden. Nun wurden diese «blöderweise» im 20. Jahrhundert gefunden, renoviert und wieder ausgestellt. Der Bildersturm konnte deren Geschichte, Entstehung und Bedeutung nicht ungeschehen machen. Auch das Wappen und Hauszeichen der Zunft zu Mohren in Bern, die erstmals 1383 urkundlich erwähnt ist, wurde zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion.
Im erwähnten Proseminar lernten wir Studenten dannzumal die Werkzeuge kennen, mit denen der Historiker an seinen Stoff geht, und probierten sie ein erstes Mal aus. Als ein Kommilitone Bismarck, den deutschen Reichskanzler aus dem 19. Jahrhundert, als Scheusal bezeichnete, hob die Professorin sofort die Hand und bezeichnete solche Werturteile aus heutiger Sicht als ahistorisch. In diesem Proseminar lernte ich auch einen Kommilitonen kennen, mit dem ich im Rahmen einer längeren Korrespondenz jüngst dieses Thema abhandelte und der mich zu diesem Beitrag ermunterte.
Ein Denkmal für Wilson in Warschau?
Kommen wir nun zurück auf den erwähnten Präsidenten Woodrow Wilson. Mit seinen 14 Punkten prägte er nach dem 1. Weltkrieg die Nachkriegsordnung im Guten wie im Schlechten. Sein Programm sah unter anderem das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Schaffung eines Völkerbundes zur Verhinderung neuer Kriege vor. Bei den Friedensverhandlungen von Versailles konnte er sich aber in wichtigen Punkten nicht durchsetzen. «Einige werfen ihm nun plötzlich undifferenziert Rassismus vor, was teilweise durchaus stimmen mag, doch wird ein Pole dies niemals akzeptieren, weil Wilson bekanntlich dem Land nicht nur den Frieden, sondern nach 150 Jahren Teilung nichts Geringeres als die staatliche Souveränität zurückgebracht hat. Im Gegenteil. Auf dem gleichnamigen Platz im Norden Warschaus erwägt man sogar, ihm ein Denkmal zu errichten (…)», so schreibt mein Freund und ehemaliger Kommilitone.
Das heisst also: Je nachdem mit welcher Fragestellung wir an die Geschichte gehen, lautet die Antwort verschieden. Mit Erwägungen aus der Gegenwart kann man aber auf keinen Fall Figuren aus der Vergangenheit die Geschichtsmächtigkeit absprechen. Und es ist höchst unklug und ahistorisch, sie aufgrund von Präferenzen der Gegenwart aus dem historischen Gedächtnis zu tilgen und moralische Werturteile von unserer Warte aus zu fällen.
Wo sind die Universitätshistoriker?
«Weshalb gibt es eigentlich in der gesamten Historikergilde offensichtlich niemanden, der gegen dieses eindimensionale Geschichtsverständnis, um nicht zu sagen gegen die Geschichtsklitterung, auf die Barrikaden geht, du, zum Beispiel?!» , schliesst mein Freund. Ja, warum? Ich habe jetzt immerhin diesen Beitrag geschrieben. Und ich warte immer noch auf den Aufschrei der Historikerzunft. Wo sind die Universitätshistoriker, die Geschichtslehrer und der Verband der Historikerinnen und Historiker? Da wird der Raison d’être ihrer Zunft in Frage gestellt und angegriffen und sie verstecken sich in den Elfenbeintürmen der Universitätsinstitute und in den Schulstuben. Universitätshistorikerinnen und -historiker und Geschichtslehrerinnen und -lehrer sind dafür bezahlt, ihr Fach zu vertreten. Ich erwarte ihre Stellungnahmen. Auch dann, wenn es einmal politisch heikel wird und etwas Mut braucht.