Es ist ein prächtiges Gebäude im Zentrum der lettischen Hauptstadt Riga, sechs Stockwerke und ein Innenhof am Freiheitsboulevard, und doch steht es seit gut zehn Jahren leer. „Es gibt grosse Vorbehalte, über einen Umzug dorthin auch nur zu reden“, berichtet Baiba Strautmane von der staatlichen Immobilienverwaltung. Der Jugendstil-Bau wurde 1912 von Aleksandrs Vanags, einem der bekanntesten Architekten Lettlands, errichtet; er gehört wie der Rest von Rigas Innenstadt zum UNESCO-Weltkulturerbe. Potentielle Mieter beeindrucke das aber nicht: „Die dramatische Geschichte schreckt ab.“
Geöffent für die Europäische Kulturhauptstadt
Manche Besucher waren auch früher schon freiwillig gekommen: Beim Eingang steht immer noch ein grosser Briefkasten, in den einst Denunzianten anonyme Anzeigen werfen konnten. Die meisten Menschen wurden aber gegen ihren Willen in den Häuserblock mit den vergitterten Fenstern geschleppt, der im Volksmund einfach „Eckhaus“ genannt wurde. Bis August 1991 war hier unter wechselnden Namen der sowjetische Geheimdienst untergebracht, zuletzt als „Komitee für Staatssicherheit“, auf russisch kurz KGB. In den letzten Jahren wurde der über 8500 Quadratmeter grosse Komplex nur noch von ein paar Film-Crews betreten, zum Beispiel für den Wallander-Krimi „Hunde von Riga“.
Heuer kann die früher abgeriegelte und schwer bewachte KGB-Zentrale erstmals besichtigt werden, vorerst zumindest bis 19. Oktober. „Das Leitmotiv von Riga als Europäischer Kulturhauptstadt 2014 ist 'Force Majeure', das heisst die Beziehung zwischen unüberwindlicher Macht und Kultur, Geschichte und Schicksal“, erläutert der Kurator Gints Grube. „In diesem Rahmen sahen wir die Möglichkeit, dem Gebäude mit verschiedenen Ausstellungen einen neuen Inhalt zu geben, ohne dabei die mit dem Haus verbundenen historischen Ereignisse zu vergessen. Die Ziele des Projekts sind für uns, mehr über Geschichte nachzudenken und offen zu reden über unsere Verletzungen, Ängste und andauernden Alpträume.“
Deutsche, sowjetische Besatzung, Holocaust
Zur Überraschung der Veranstalter ist das ungeliebte Eckhaus nun eine Hauptattraktion von „Riga 2014“; die beklemmenden Gefängniszellen und Büros mit sowjetischem Charme ziehen nicht nur Touristen an, sondern auch zahlreiche Einheimische. „Nicht empfohlen für Kinder unter 7 Jahren“ warnen Schilder im Erdgeschoss, wo das Lettische Okkupationsmuseum Wandtafeln zur Geschichte des KGB und Video-Interviews von ehemaligen Häftlingen zeigt. Für empfindsame Gemüter taugt die ganze neuere lettische Historie nicht: Durch abwechselnde sowjetische und deutsche Besatzungen, Weltkriege und Holocaust verlor Lettland im 20. Jahrhundert ein Drittel seiner Einwohner.
Als nach dem Ersten Weltkrieg in Riga für kurze Zeit Kommunisten an die Macht kamen, besetzte ein „Revolutionäres Komitee“ das Eckhaus. Zu den „Klassenfeinden“, die im März 1919 ohne Prozess erschossen wurden, zählte unter anderen der Architekt Vanags. Während der ersten lettischen Republik war das Gebäude zunächst Wohn- und Geschäftshaus; das Innenministerium der autoritären Ulmanis-Regierung übernahm es ab den 1930er Jahren. Nach dem sowjetischen Einmarsch erschoss sich hier in seinem Büro der General der lettischen Grenztruppen.
Schiessanlage gleich hinter der Kantine
Ab August 1940 wandelte ein KGB-Vorläufer das Eckhaus in das „Gefängnis Nr.1“ um: im Keller Zellen, in den oberen Geschossen Verhörräume, ganz oben Wohnungen für hochrangige Offiziere. In der Schiessanlage gleich hinter der Kantine wurden bis zum folgenden Sommer mehr als 150 Menschen umgebracht. Die meisten Geheimdienstler waren aber mit dem Schreiben von Namenslisten beschäftigt: In der Nacht des 14. Juni 1941 wurden mehr als 15'000 Letten von Riga nach Sibirien deportiert, was vor allem Kleinkinder und Greise nicht überlebten. Während der Stalin-Zeit wurden in Lettland insgesamt rund 150'000 Menschen hingerichtet oder deportiert.
Von dem raschen Vormarsch der deutschen Truppen wurden die Sowjets dann überrascht: Zahlreiche Dokumente fielen den Deutschen in die Hände. Die Nazi-Propaganda nutzte die Zeugnisse der sowjetischen Gräuel gern. Eine nationalistische Jugendorganisation zeigte dazu im Eckhaus eine Ausstellung. Beim Rückzug nahm die Wehrmacht KGB-Akten mit, die im Westen erhalten blieben und vor kurzem an Lettland zurückgegeben wurden.
1990 - Freilassung der letzten Häftlinge
Ab Oktober 1944 war die sowjetische „Staatssicherheit“ wieder zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es im Eckhaus keine Hinrichtungen mehr. Die Haftbedingungen blieben schlecht: Die Gefangenen wurden in ständig hell erleuchteten Zellen das ganze Jahr über unter feucht-heissen Sauna-Bedingungen gehalten. „Das war eine der Methoden, um den Widerstand zu brechen“, erklärt der Historiker Rihards Petersons: „Die Gefangenen in Unterwäsche konnten Hitze und Licht eine Zeit lang ertragen, aber nach einer Woche wurden sie nervös, sie schwitzten ständig, die Augen liefen und die Köpfe schmerzten. Die Leute wurden apathisch und fühlten sich erschöpft.“ Immerhin wurden nach der Stalin-Zeit die Verhöre weniger brutal. Im Mai 1990 kamen die letzten Häftlinge aus dem Eckhaus frei.
Um in das Visier des KGB zu geraten und für 10 oder 15 Jahre in einem Arbeitslager zu verschwinden, musste man nicht unbedingt Dissident sein oder zu den „Waldbrüder“-Partisanen gehören, die bis in die 1950er Jahre hinein gegen die Sowjetunion kämpften. Zu den in Riga verhafteten „Staatsfeinden“ gehörte zum Beispiel auch ein Lesezirkel, der durch Interesse für französische Bücher aufgefallen war. Fleissig waren besonders die dem KGB unterstellten Grenztruppen, die in den Zeiten vor Internet und Überwachungskameras grossen Aufwand betrieben: Sorgfältig harkten sie jeden Tag entlang der Küste Lettlands einen mehrere Meter breiten Sandstreifen, um Fussabdrücke von Flüchtlingen zu finden. Für gewöhnliche Sowjetbürger war die ganze Ostsee-Küste Sperrgebiet. Westliche Touristen durften nur auf dem Umweg über Moskau ins Baltikum reisen.
Fünf verschiedene Ausstellungen
In den ehemaligen Büros im vierten und sechsten Stock des Eckhauses sind jetzt fünf verschiedene Ausstellungen zu sehen. Das Stadtmuseum von Riga präsentiert „Zehn Artefakte, die Geschichten von Mensch und Macht erzählen“. Dazu gehört zum Beispiel die Schreibmaschine eines Baltendeutschen, der 1939 zur Auswanderung gezwungen wurde. Ähnlich ist das „Museum schicksalhafter Objekte“ aufgezogen, für das rund 500 Rigenser persönliche Erinnerungsstücke samt den dazugehörenden Geschichten sammelten. Das Lettische Museum Naiver Kunst zeigt unter dem Titel „Trotz alledem“ alte Kinderbilder von Deportationen und Konzentrationslagern. Das Museum der Auslandsletten hat zur Erinnerung an die vielen Auswanderer die Ausstellung „Der Koffer eines Letten“ organisiert. Am Ausgang drücken resolute Aufseherinnen den Besuchern Schreibpapier in die Hand, damit sie notieren, was sie denn im Falle einer Flucht mitnehmen würden.
Die Kunsthistoriker Aesa Sigurjonsdottir und Karlis Verpe kuratierten die Ausstellung „(Re)konstruktion von Freundschaft“, für die rund 20 Künstler aus ganz Europa „Situationen untersuchten, in denen Vertreter von Supermächten mit kleineren Ländern oder Bevölkerungsgruppen 'Freundschaften' etablierten und ihnen ihren Lebensstil aufzwangen“. Die Deutschen Daniel und Geo Fuchs zum Beispiel steuerten Bilder von Stasi-Einrichtungen in der ehemaligen DDR bei, andere fotografierten die US-Basis in Island oder den Atombunker des ehemaligen jugoslawischen Diktators Tito. Den Künstler Nikita Kadan inspirierte das Thema zu Souvenir-Tellern mit Darstellungen gängiger Foltermethoden der ukrainischen Polizei. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist das Verhör-Knowhow erhalten geblieben, nicht nur in Weissrussland, wo das KGB nicht einmal umbenannt wurde.
„25 Jahre danach“
Am 21. und 22. August 2014 fand im Eckhaus eine internationale Konferenz statt: „25 Jahre danach. Der Baltische Weg und der Kollaps des totalitären Kommunismus“. Dieses vom lettischen Aussenministerium, der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung und anderen Organisationen veranstaltete Treffen von Politikern und Wissenschaftlern sollte an den 23. August 1989 erinnern. Damals hatten fast zwei Millionen Balten zum Gedenken an den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 eine 600 Kilometer lange Menschen-Kette von Estland über Riga bis nach Litauen gebildet und für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten von der Sowjetunion demonstriert.
Was in Zukunft mit der KGB-Zentrale geschehen soll, ist umstritten. Die Vorschläge, die bislang bei der Immobilienverwaltung eingegangen sind, reichen von „Abreissen“ über „Schwarz anstreichen“ bis zu „Friedenszentrum wie das Nobelpreis-Haus in Oslo“. „Von Christo einpacken lassen und warten, bis die Gesellschaft weiss, was sie will“, empfiehlt die Künstlerin Diana Popova. Wegen des grossen Andrangs werde es wohl auf ein Museum hinauslaufen, erwartet Baiba Strautmane: „Zumindest die Keller und das Erdgeschoss müssen öffentlich zugänglich bleiben. Für den Rest kommen Büros in Frage, Hotels eher nicht. In jedem Fall wird sich das Schicksal des Eckhauses dieses Jahr klären.“
Website des Autors: http://martin-ebner.net/regions/eastern-europe/