
«The New Yorker», der diese Woche 100-jährig wird, ist der lebende Beweis dafür, dass sich qualitativ hochstehender Journalismus lohnt. Einerseits der Tradition verpflichtet, hat sich das liberale Wochenmagazin anderseits auch Innovation gegenüber stets offen gezeigt.
«Literarisch im Ton, weitreichend im Umfang und witzig bis auf die Knochen, brachte The New Yorker eine neue – und dringend benötigte – Raffinesse in den amerikanischen Journalismus, als er (…) vor 100 Jahren erstmals erschien», schreibt Professor Christopher B. Daley, Autor einer preisgekrönten Geschichte des US-Journalismus. Doch als am 21. Februar 1925 die erste Ausgabe des Magazins erschien, war seine Zukunft alles andere als gewiss.
«Wir hatten das Gefühl gescheitert zu sein.»
Zwar florierte das Magazin-Geschäft damals, aber der Gründer des «New Yorker», der 33-jährige Harald B. Ross, wollte etwas ganz Neues auf den Markt bringen – ein Produkt, das ihn und seine Freunde, junge Städter, die Zeit in Europa verbracht hatten, direkt ansprach. Und das ohne die marküblichen Plattitüden und leicht vorhersehbaren journalistischen Angebote anderer Magazine.
Doch die erste Ausgabe des «New Yorker», eine Sammlung von Witzen und kurzen Gedichten, Kritiken von Theaterstücken und Büchern sowie einem Porträt, viel Klatsch und wenigen Anzeigen genügte den hehren Ansprüchen des Gründers noch nicht. «Wir sind nicht stolz auf unsere erste Ausgabe des New Yorker», schrieb Jane Grant, Ross’ erste von drei Frauen, in ihren 1968 erschienenen Memoiren: «Wir hatten gehofft, er würde zu einem unmittelbaren Triumph und literarischen Erfolg.»
Doch das neue Magazin war weder das eine noch das andere: «Wir hatten das Gefühl gescheitert zu sein.» An New Yorks Zeitungskiosken stapelten sich in jenen Wintertagen Haufen unverkaufter Magazine. Und einige Monate später hätte Harald Ross das Magazin eines Nachts in einer alkoholträchtigen Pokerrunde im Algonquin Hotel beinahe verloren.
Das Grossstadtleben widerspiegeln
Als er am nächsten Mittag nach Hause kam, fand Jane Grant, die erste Reporterin der «New York Times», in seinen Taschen Schuldscheine über Zentausende Dollar. Doch sein Poker-Partner Raoul Fleischmann, Erbe eines Hefe-Imperiums, half ihm erneut aus der Patsche, nachdem er bereits den Start des Magazins mit 25’000 Dollar (nach heutigem Kurs rund 450’000 Dollar) finanziert hatte.
«Der New Yorker wird in Wort und Bild das Grossstadtleben widerspiegeln. Er wird menschlich sein. Sein allgemeiner Tenor wird von Heiterkeit, Wirbel und Satire geprägt sein, aber er wird mehr sein als ein Narr», hatte Ross in einer Werbebroschüre für das Magazin geschrieben: «Es wird nicht das sein, was man gemeinhin als radikal oder anspruchsvoll bezeichnet. Es wird das sein, was man gemeinhin als kultiviert bezeichnet, weil es bei seinen Lesern ein vernünftiges Mass an Aufgeklärtheit voraussetzt. Es wird Schwachsinn hassen.»
Harald B. Ross, in Aspen (Colorado) als Sohn eines Bergarbeiters und einer Lehrerin geboren, war ein wacher Geist. Als er vierzehn war, lief er von zu Hause weg und begann für eine Reihe von Zeitungen im In- und Ausland zu arbeiten. Als die USA in den 1. Weltkrieg eintraten, meldete er sich zum Dienst in der Armee und wurde nach Südfrankreich geschickt. Doch dort desertierte er nach kurzer Zeit und schlug sich mit seiner «Corona»-Reiseschreibmaschine nach Paris durch, wo er sich der neuen US-Soldatenzeitung «Stars & Stripes» anschloss, die verzweifelt nach Leuten suchte und ihn ohne näher zu befragen anstellte.
Lange Sachgeschichten, Kurzgeschichten, Gedichte, Karikaturen
Nach dem Waffenstillstand zog es den jungen Ross nach New York City, wo er Kollegen kennenlernte und sich einer Clique von Kritikern, Theaterautoren und Geistesgrössen anschloss, die sich am «Round Table» im Algonquin Hotel an der West 44th Street in Manhattan zu treffen pflegte. Einige unter ihnen sollte er später als Autoren für seinen «New Yorker» rekrutieren.
Doch nach dem verunglückten Start 1925 fand der «New Yorker» allmählich seine unverwechselbare Stimme, nicht zuletzt, weil es Harald B. Ross gelang, talentierte Autorinnen und Autoren sowie gewiefte Redaktorinnen und Redaktoren anzuziehen und zu fördern. «In dem Masse, in dem der New Yorker Fuss fasste, begannen das Schreib- und Redaktionspersonal einige seiner Markenzeichen zu perfektionieren», schreibt in «Covering America» Christopher B. Daley: «Es waren das Porträt, das idealerweise über jemanden geschrieben wurde, der nicht ständig in den News war, es aber verdiente, besser bekannt zu sein; lange, ausführlich recherchierte Sachgeschichten; Kurzgeschichten und Gedichte; und, natürlich, die einzelnen Karikaturen und humorvollen Vignetten.»
«View of the World from 9th Avenue»
Ein Unterscheidungsmerkmal des «New Yorker» sind seine Titelbilder, die seit der ersten Ausgabe vor 100 Jahren alle gezeichnet werden. Zu den bekanntesten Covers gehört Saul Steinbergs selbstironische «View of the World from 9th Avenue», das am 29. März 1976 erschien und dessen untere Hälfte Lower Manhattan und dessen obere Hälfte das übrige Amerika sowie den Rest der Welt zeigt. Unvergessen auch das dunkle Titelbild von Art Spiegelman und Francoise Mouly nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center am 9/11, das am 24. September 2001 publiziert wurde und, schwarz auf schwarz, die Silhouetten der Zwillingstürme erahnen liess.
Äusserst kontrovers war in der Ausgabe des Magazins vom 21. Juli 2008 sodann ein Cover des Zeichners Barry Blitt unter dem Titel «Die Politik der Furcht». Es zeigte Barack Obama mit Turban als Muslim und Michelle Obama mit Afro-Frisur und Hosen in Tarnfarben, ein Sturmgewehr über die Schulter geschlungenen. Die beiden standen, sich mit ihren Fäusten begrüssend, im Oval Office, an dessen Wand ein Bild von Osama bin Laden hing und in dessen Cheminée eine amerikanische Flagge brannte.
Die Folgen des Atombombenabwurfs
Das wichtigste Qualitätsmerkmal des «»New Yorker» sind aber stets seine langen Reportagen gewesen. Harald Ross war der Inhalt des Magazins während des 2. Weltkriegs allmählich zu seicht geworden und so schrieb er im März 1945 an Auslandkorrespondentin Janet Flanner in Frankreich: «Der Krieg wird, fürchte ich, vorüber und vergessen sein, bevor eine Anzahl von Geschichten gedruckt werden, welche die wirklichen Grausamkeiten enthüllen, wenn sich der New Yorker nicht aufrafft, etwas dagegen zu unternehmen.»
So erschien, auf Vorschlag des Literaturredaktors und späteren Chefredaktors William Shawn, am 31. August 1946 eine Reportage von John Hersey über die Folgen des Atombombenabwurfs über Hiroshima. Seine jüngste Ausgabe, kündigte das Magazin damals an, werde «vollständig einem einzigen Artikel über die fast vollständige Auslöschung einer Stadt durch eine Atombombe gewidmet sein». Dies, weil «nur wenige von uns die schier unglaubliche Zerstörungskraft dieser Waffe begriffen haben und dass sich jeder die Zeit nehmen sollte, über die schrecklichen Folgen ihres Einsatzes nachzudenken.»
Zwar war John Hersey (1914–1993) nicht der erste Journalist, der über die Folgen der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki berichtete; es gab dazu in Amerika Artikel mit erschreckenden Statistiken und Wochenschauberichte mit erschütternden Bildern der Zerstörung. Doch der Reporter des «New Yorker» war der erste, der sich auf den Tribut an Menschenleben konzentrierte und die Geschichten von sechs Überlebenden erzählte.
Den Lauf der Weltgeschichte ändern?
Ein weiterer Meilenstein war mit Start am 16. Juni 1962 als Vorabdruck eines Buches die Artikelserie «Silent Spring» der Biologin und Autorin Rachel Carson (1907–1964), das die Schäden von Pestiziden wie DTT für Menschen und Umwelt dokumentierte. Das Werk, von der mächtigen chemischen Industrie erbittert bekämpft, führte in den USA zur Gründung einer Basisbewegung für Umweltweltschutz und zur Etablierung eines Bundesamtes für Umweltschutz in Washington DC. Nachdem Chefredaktor William Shawn das erste Kapitel des Buches gelesen hatte, rief er Rachel Carson an und teilte ihr mit, ihr Werk könnte den Lauf der Weltgeschichte verändern. Die Autorin, bereits krebskrank, legte den Hörer auf, kollabierte und weinte.
Einiges Aufsehen erregte nach dem arabischen Ölembargo von 1973 ein Jahr später auch Noël Mosterts «Reportage Supership», die unter anderem den Alltag einer Besatzung auf einem Supertanker und die Risiken der Meeresverschmutzung durch VLCC («very large crude carriers») thematisierte. Der später zum Buch ausgeweiteten Reportage des südafrikanischen Historikers war eine zweijährige Recherche vorangegangen.
Solchen Sachberichten geht beim «New Yorker» nicht nur ein intensives Redigieren, sondern ein ebenso akribischer Faktencheck voraus. Unter Harald Ross kamen Manuskripte oft, am Rand mit Bleistiftnotizen versehen, mit einer Reihe von Rückfragen nach genauen Daten oder der Identität von Quellen zur Autorin oder zum Autor zurück. »Who he?», hiess eine der häufigsten Erkundigungen des Chefredaktors: «Wer er?»
Ergänzung durch Videos und Podcasts
Heute prüfen die rund zwei Dutzend Faktenchecker des Magazins nicht nur Artikel, sondern auch Gedichte, Kurzgeschichten und selbst Legenden von Karikaturen auf ihre Richtigkeit hin. So ist in einem Fall die Legende einer Karikatur hinterfragt worden, die zeigte, wie ein Pinguin die Eltern seiner Freundin trifft. Entsprechend sollte der Begriff «Arctic-American» zu «Antarctic- American» abgeändert werden, da Pinguine in der Antarktis leben. Doch die zuständige Karikaturen-Redaktorin legte ihr Veto ein, da sie «Arctic American» lustiger fand.
«The New Yorker» versteht sich heute als liberales Magazin, das im Laufe der Zeit politischer und profilierter geworden ist. «Ich glaube nicht, dass wir eine ideologische Publikation sind», sagt Chefredaktor David Remnick, seit 1998 im Amt: «Ich glaube Reportagen stehen mehr im Zentrum als Fingerzeige.»
Doch auch der «New Yorker» ist gegen negative Entwicklungen in der amerikanischen Medienindustrie nicht immun. 2023 musste der Verlag mehrere Mitarbeitende entlassen. Doch die Leserschaft mit rund 1,2 Millionen (für die Druckausgabe und im Netz) ist stabil und die Redaktion bemüht sich, zusätzlich neue Gefässe wie Podcasts oder Videos anzubieten – nicht statt traditioneller Genres, sondern zusätzlich.
Unbestritten bleibt, dass der «New Yorker» einen positiven Einfluss auf den amerikanischen Journalismus ausgeübt hat und immer noch ausübt. Denn sein erster Chefredaktor Harald B. Ross hat Pressehistoriker Christoph B. Daley zufolge jene Bedingungen kreiert, unter denen sich unverwechselbare Stimmen ausdrücken und entwickeln konnten. Auch erweiterte Ross das Themenspektrum von üblichen Sujets wie Unglücksfälle und Verbrechen, Gerichte, Politik und Sport auf Abseitiges, Unerwartetes und Substanzielles.
Remnick: «Vorwärts und aufwärts»
«Besonders am Herzen liegt uns aber die weitaus reichhaltigere Publikation, die im Laufe der Zeit entstanden ist: eine Zeitschrift der Aufzeichnung und der Phantasie, der Reportage und der Poesie, des Wortes und der Kunst, des Kommentars zum Augenblick und der Reflexion über das Zeitalter», schreibt David Remnick im Leitartikel «Vorwärts und Aufwärts» zum 100-jährigen Jubiläum seines Magazins. «Ein Jahrhundert nach Ross’ grossartiger Glückswette und nachdem wir uns in die Bereiche Digital, Audio und Video vorgewagt haben, wollen wir unsere Anstrengungen verdoppeln, Substanz, Komplexität, Argumentation, Humanität und Witz zu bieten.»
Auch will das Magazin anders als andere nationale Publikationen wie die «Washington Post» oder die «Los Angeles Times» seine Tradition beibehalten, die seiner Meinung nach am besten geeignete Kandidatin oder den am ehesten wählbaren Kandidaten für das Präsidentenamt zu empfehlen. 2024 war das nicht Donald Trump, für den Amerikas etablierte Presseerzeugnisse wie «The New Yorker» vor allem «Volksfeinde» sind. Im Gegensatz zu anderen Medienunternehmen wie die AP, CBS oder NPR aber hat der Präsident das Wochenmagazin noch nicht ins Visier genommen. Er müsste ihn wohl häufiger lesen lassen.
Und noch dürfte es dauern, bis «The New Yorker» ein Cover wiederholen kann, das am 25. Januar 2021 erschien, nachdem Donald Trump wenige Tage zuvor das Weisse Haus verlassen hatte. Barry Blitt zeichnete den Ex-Präsidenten in den Klauen eines amerikanischen Adlers, der in die Lüfte abhebt. Der Titel: «A Weight Lifted» – eine grosse Last beseitigt.