
Atomenergie ist hierzulande im Jahr 2025 so unangefochten wie seit Jahrzehnten nicht mehr – letztlich dank des Klimawandels. Frankreich hat es sogar geschafft, die Atomenergie in Brüssel als grüne Energie zu verkaufen und durchzusetzen. Das Problem: Man hat im eigenen Land die grössten Schwierigkeiten, die Laufzeit der alten Reaktoren zu verlängern und neue zu bauen und das Ganze zu finanzieren.
Präsident Macron hat sich zu Beginn der vergangenen Woche wieder einmal im internationalen Spiegel gesonnt und den grossen Zampano gegeben.
Innenpolitisch so gut wie entmachtet seit der niemandem verständlichen, desaströsen Auflösung des Parlaments im Juni letzten Jahres und der darauf folgenden Wahlschlappe, hat Macron es auf dem internationalen Parkett wieder einmal richtig krachen lassen.
Hauptstadt der KI
Die Rede ist von seiner Selbstsinzenierung rund um den internationalen Gipfel über künstliche Intelligenz.
Die offizielle Ankündigung auf der Webseite des französischen Aussenministeriums lautete: «Vom 10. bis 11. Februar 2025 findet der KI-Aktionsgipfel statt und verwandelt Paris in die globale Hauptstadt der künstlichen Intelligenz (KI).»
Ort der Inszenierung in dieser «globalen Hauptstadt»: das riesige Volumen unter den aufwendig renovierten, überwältigenden Kuppeln aus Stahl und Glas des im Jahr 1900 fertiggestellten Grand Palais.
Dort, wo die Fechter während der Olympischen Sommerspiele ihre Wettkämpfe ausgetragen hatten, kämpfte Präsident Macron mit all seinem rhetorischen Talent zwei Tage lang einen Prestigekampf und tat dabei so, als würde Frankreich in Sachen künstlicher Intelligenz den USA und China Paroli bieten können.
Dazu hatte er – damit all das auch eine Wirkung im eigenen Land hat – vor der Eröffnung der internationalen KI-Messe das öffentlichrechtliche Fernsehen zu einem Interview herbeizitiert.
Der Staatschef sass dabei zur Hauptnachrichtenzeit mutterseelenalleine, als sei er eben allmächtig und hänge alles nur von ihm ab, an einem riesigen runden Tisch mitten unter der zentralen Glaskuppel des leergefegten Grand Palais und zog seine Show ab, versprach den Zuschauern für die Zukunft, dank der künstlichen Intelligenz, das Blaue vom Himmel.
Unsere Atomenergie – ein Trumpf
Fast schamlos hat Emmanuel Macron bei dieser Gelegenheit gleich mehrmals vor Kameras und Mikrophonen damit geprahlt, dass Frankreich für die Weiterentwicklung dieser Spitzentechnologie schliesslich über die schier endlos zur Verfügung stehende Atomenergie verfüge und diese problemlos für den Betrieb der gigantischen Datenzentren, die in Zukunft aus dem Boden schiessen werden, zur Verfügung stellen kann.
Alles Paletti also im europäischen Mutterland des Atomstroms, in dem Präsident Macron vor drei Jahren die grosse Renaissance der Atomenergie verfügt hat?
Erinnert sich niemand mehr daran, dass Frankreichs AKWs vor nur wenigen Jahren wegen Störfallen und Reparaturen zu 50 Prozent ausser Betrieb waren und man gewaltig Strom im Ausland kaufen musste ?
Oder denkt noch jemand daran, dass die klassischen Atomreaktoren in Frankreich im Grunde für eine Laufzeit von 40 Jahren konzipiert waren, das Durchschnittsalter der 56 Reaktoren im Land aber heute schon bei 39 Jahren liegt? Der dienstälteste Reaktor ist seit 1979 in Betrieb und der jüngste ist auch bereits 1999 fertiggestellt worden – danach hat Frankreich ein Vierteljahrhundert lang kein neues Atomkraftwerk mehr gebaut.
Nun ist die Rede davon, dass man die Laufzeiten der alten Modelle auch auf 70 oder gar 80 Jahre verlängern könnte, was allerdings Milliardeninvestitionen und langfristige Stilllegungen der Anlagen nötig machen würde.
Das Altern der Atommeiler sieht man inzwischen auch daran, dass die obligatorischen Generalüberholungen, die alle 10 Jahre stattzufinden haben, die einzelnen Reaktoren immer länger lahmlegen.
Normalerweise musste ein Reaktor für solch eine Generalinspektion rund 180 Tage abgeschaltet werden. Heute sind es in manchen Fällen bis zu 470 Tage.
Nichts geht gegen Atomkraft
Seit Ewigkeiten scheint die Zeit vorbei, da unter Präsident François Hollande zwischen 2012 und 2017 in Sachen Atomenergie zumindest ein etwas anderer Ton angeschlagen wurde. Der Sozialist war angetreten mit dem Versprechen, den Anteil des Atomstroms von 75 auf 50 Prozent zu reduzieren und den Energiemix im Land dank erneuerbarer Energien gründlich zu ändern, was von einer Mehrheit der Bevölkerung damals durchaus als vernünftig empfunden wurde.
Die Umsetzung dieses Versprechens ging allerdings gründlich schief. Der Widerstand der Atomlobby und ihrer verlängerten Arme in der Politik, wo mit allen zur Verfügung stehenden Hufen gebremst wurde, verschleppte das Ganze, wodurch Frankreichs beachtliche Verspätung bei der Entwicklung von erneuerbaren Energien quasi einbetoniert wurde. Letztlich waren am Ende der Amtszeit von Präsident Hollande gerade mal die zwei ältesten Atommeiler des Landes im elsässischen Fessenheim (Baujahr 1977) abgeschaltet. Um den Atomstromanteil auf 50 Prozent zu reduzieren, hätten es aber rund 10 Reaktoren sein müssen.
2017 war es dann schon wieder fast selbstverständlich, dass Hollandes Nachfolger im Elysée, Emmanuel Macron, diese Politik, diesen vorsichtig eingeschlagenen Weg, mitnichten fortsetzen würde.
Ein Staat im Staat
Es ist so, als hätte sich in Frankreich seit 50 Jahren in der Atomenergiefrage strikt gar nichts geändert.
Emmanuel Macron agiert heute wie Valéry Giscard d’Estaing vor einem halben Jahrhundert oder De Gaulle vor 70 Jahren. Will heissen: Nach wie vor kann in Frankreich der Präsident mehr oder weniger alleine entscheiden, wie es mit der zivilen Atomenergie weitergehen soll – unterstützt und gecoacht von der Atomlobby, die seit Jahrzehnten so etwas ist wie ein Staat im Staat.
Sechs neue EPR2-Reaktoren an drei verschiedenen Standorten, so hat es der Herr im Elysée im Jahr 2022 beschlossen, werden gebaut und sollen angeblich zwischen 2035 und 2040 in Betrieb gehen.
Die Kosten für diese sechs Reaktoren waren vor knapp drei Jahren bei der majestätischen Ankündigung des neuen Atomprogramms auf 52 Milliarden Euro veranschlagt worden.
Der französische Rechnungshof war aber schon im vergangenen Jahr der Meinung, dass das Kalkül nicht sonderlich seriös war und mindestens 15 Milliarden dazu kommen werden. Und angesichts der bisherigen Erfahrungen mit dem europäischen Druckwasserreaktor (EPR), der vor über zwei Jahrzehnten himmelhoch jauchzend präsentiert und als der Reaktor der Zukunft präsentiert worden war, darf man sicher sein, dass am Ende die sechs von Macron in Auftrag gegebenen Atomreaktoren noch ein paar Dutzend Milliarden mehr kosten werden.
Flammanville
Denn die Geschichte der europäischen Druckwassereaktoren – ursprünglich eine deutsch-französische Co-Produktion, aus der sich der Siemens-Konzern aber sehr schnell zurückgezogen hatte – ist bisher alles andere als eine Erfolgsstory. Vielmehr hat sich der Bau der EPR-Reaktoren in der Praxis bislang als ein gigantisches, industrielles Fiasko herausgestellt.
Um das EPR-Modell international verkaufen zu können – so sagten sich der damalige Atomkonzern Areva (heute Orion ) und der wieder verstaatlichte Stromkonzern EDF Anfang der Nullerjahre – war es unerlässlich, in Frankreich selbst einen Prototypen zu bauen.
Es wurde der EPR Flamanville an der Westküste der Halbinsel Cotentin in der Normandie – ein Ort, an dem ohnehin schon seit gut 30 Jahren ein altes Kernkraftwerk in Betrieb und die legendäre Wiederaufarbeitungsanlage von La Hague nicht weit entfernt ist.
Der erste Spatenstich fand im Jahr 2007 statt, fünf Jahre später sollte der hochgelobte, neue Reaktor in Betrieb gehen. De facto ist der EPR Flamanville erst jetzt, im Dezember 2024, mit zwölfjähriger Verspätung ans Netz gegangen und die Kosten sind explodiert. Von ursprünglich 3,3 Milliarden Euro auf über 20 Milliarden.
Finnland, Grossbritannien, China
Ein Vierteljahrhundert nach der Präsentation des neuen Reaktortyps sind weltweit gerade mal eine Handvoll solcher Reaktoren im Betrieb beziehungsweise noch im Bau, mehr aber auch nicht. Von daher ist der EPR nicht nur ein industrielles, sondern auch ein kommerzielles Fiasko.
Denn fast das gleiche Szenario wie in Flamanville konnte man beim ersten ins Ausland verkauften EPR beobachten, dem im finnischen Olkiluoto. Er ist nach sage und schreibe 18-jähriger Bauzeit im April 2023 endlich ans Netz gegangen. Die zig Milliarden Euro an Strafgeldern, die der Atomkonzern AREVA an den finnischen Auftraggeber für die gigantische Verspätung bei der Fertigstellung zu zahlen hatte, haben ganz wesentlich dazu beigetragen, dass der AREVA-Konzern radikal umstrukturiert werden musste und letztlich nur durch öffentliche Milliardenspritzen gerettet werden konnte und, um das Ganze ein wenig zu vertuschen, in Orion umgetauft wurde.
Zwei weitere EPR-Reaktoren sind auch in Grossbritannien im Bau – Hinkley Point, C1 und C2. Das sich abzeichnende Szenario ist dort nicht viel besser als die Erfahrungen in Flamanville oder in Finnland.
Die ursprünglichen Kosten haben sich schon mehr als verdoppelt, seit neun Jahren wird bereits gebaut, doch im besten Fall wird Hinkley Point, so heisst es, ab 2031 Strom liefern können.
In China hat man es in Taishan ganz im Süden des Landes geschafft, die Bauzeiten von zwei EPR-Reaktoren so ungefähr einzuhalten. Allerdings gibt es von dort seit der Inbetriebnahme im Jahr 2018 in schöner Regelmässigkeit Meldungen über Störfälle und notgedrungene Abschaltungen, wobei angesichts chinesischer Informationspolitik niemand zu sagen vermag, wie schwerwiegend diese Vorfälle sind.
Alles in allem sind diese bisherigen Erfahrungen mit Frankreichs EPR-Reaktoren alles andere als ermutigend für das gigantische Zukunftsprojekt mit sechs neuen Reaktoren, wie es Präsident Macron 2022 angekündigt hat und zu dem bis 2050 noch acht weitere hinzukommen könnten. Und der EPR-Reaktor als Exportschlager der französischen Atomindustrie, wie man es vor zwei Jahrzehnten grossspurig angekündigt hatte, hat sich als gründliches Fiasko herausgestellt.
Erneuerbare Energien – war da was ?
Richtiggehend konsternierend ist zu sehen, dass Frankreich in Sachen Atomenergie einfach so weitermacht, wie man es seit den 70er Jahren gehalten hat. Will heissen: Man setzt auch im Jahr 2025 noch fast alles auf die Atomenergie und betrachtet erneuerbare Energien als etwas eher Lästiges, wo man im besten Fall so tun muss, als würde man sich um sie kümmern.
Frankreich scheint es egal zu sein, dass die Atomenergie international gesehen seit mindestens einem Jahrzehnt ganz eindeutig auf dem absteigenden Ast ist.
Nur zwei Zahlen:
Ein Bericht der Internationalen Atomenergieagentur stellt klar: Weltweit wurden 2023 623 Milliarden Euro in den Sektor der erneuerbaren Energien investiert und gerade mal 23 Milliarden in die Atomindustrie.
Und: 1996 kam weltweit noch 17,5 Prozent des Stroms aus Atomkraftwerken, heute sind es gerade noch 9,1 Prozent!
Dazu kommt: Strom aus Wind- und aus Sonnenenergie kostet inzwischen gerade noch halb so viel wie Atomstrom.
Doch Frankreichs Präsident brüstet sich weiter mit dem französischen Nuklearsektor als Energiequelle der Zukunft.
Corinne Lepage, zwischen 1995 und 1997 eine der kompetentesten Umweltministerinnen, die Frankreich je hatte, hatte einem schon vor 20 Jahren in einem Interview ihre Entrüstung darüber mitgeteilt, dass Frankreich aus dem Atomzyklus nicht herauskommt, weil unter anderem 90 Prozent der Forschungsgelder für Energiefragen in den Atomsektor fliessen.
Und daran wird sich, besonders nach Macrons Ankündigung einer Renaissance der nationalen Atomenergie, auch nichts ändern, im Gegenteil.
Und ebenso scheint sich nichts daran zu ändern, dass Frankreichs offensives Festhalten an der alles dominierenden Atomenergie mit einer grundlegenden Lüge behaftet ist. Stets hat man hierzulande darauf beharrt, dass der Atomstrom besonders kostengünstig sei. Bei den Kalkulationen hat man allerdings seit Jahrzehnten zwei Dinge wohl ganz bewusst vergessen beziehungsweise unterschlagen:
Unbekannte Folgekosten und der Atommüll
Erstens die immensen Kosten, die der Abbau der über 50 alten Atomreaktoren eines Tages mit sich bringen wird. Bei den beiden 2020 stillgelegten Reaktoren im elsässichen Fessenheim weiss man heute schon, dass der Abbau und die Entsorgung des radioaktiven Materials mindestens 20 Jahre in Anspruch nehmen wird. Die Kosten dafür werden heute auf eine Milliarde Euro veranschlagt, doch man darf die Hand dafür ins Feuer legen, dass diese Kosten am Ende um ein Mehrfaches höher liegen werden.
Allein im bretonischen Brennilis, wo ein in den 1960er Jahren gebauter kleiner Graphitgasreaktor schon seit 1985 abgeschaltet, seine Abrüstung aber immer noch nicht vollendet ist, sind die Kosten von anfangs 200 auf inzwischen 850 Millionen Euro gestiegen.
Und zweitens die Frage, die sich in allen Ländern mit Atomkraftwerken stellt, von der Frankreich mit seiner grossen Zahl an Reaktoren aber ganz besonders betroffen ist: Was tun mit den radioaktiven und ganz besonders mit den hochradioaktiven Abfällen aus dem Atomenergiezyklus?
Frankreich hat langfristig für eine unterirdische Atommülllagerung im dünn besiedelten ostfranzösischen Bure optiert. Vor einem Vierteljahrhundert schon hat man dort in 500 Meter Tiefe mit dem Bau eines riesigen Versuchslabors begonnen, welches sozusagen den Grundstein zum künftigen Endlager bildet.
Das Projekt hat bis heute bereits 15 Milliarden Euro verschlungen, am Ende dürften es zwischen 40 und 50 Milliarden werden.
Die ersten Lieferungen von leicht strahlenden Abfällen werden erst zwischen 2035 und 2040 erwartet, diejenigen mit extrem hoher Radioaktivität und extrem langen Halbwertszeiten, um die es bei dieser Endlagerung eigentlich geht, die unter nicht optimalen Bedingungen in der Wiederaufarbeitungsanlage von La Hague gelagert sind und die über zehntausende Jahre hinweg strahlen werden, dürften nicht vor 2060 eintreffen.
Wenn man so will, ist die Atomenergie, die von Frankreich auch im Jahr 2025 noch als Energie der Zukunft proklamiert wird, eine Energie mit Folgen für die Ewigkeit.