
Am 16. Februar 2024 ist Alexei Nawalny in einem russischen Straflager jenseits des Polarkreises gestorben. Er wurde 47 Jahr alt und war der bekannteste Oppositionelle des Putin-Regimes. Seine postum erschienenen Aufzeichnungen zeichnen das bewegende Bild eines hochtalentierten Menschen, Kämpfers und Patrioten mit Sinn für Selbstironie – und seinen inneren Wandel zur religiösen Zuversicht.
Am 17. Januar 2024 schreibt Nawalny in seinen autobiographischen Notizen: «Genau vor drei Jahren kam ich wieder nach Russland, nach der Behandlung (in Deutschland) wegen meiner Vergiftung. Ich wurde auf dem Flughafen festgenommen. Und drei Jahre bin ich jetzt im Gefängnis. Und drei Jahre lang habe ich dieselbe Frage beantwortet: Warum bist Du zurückgekommen?»
«Warum bist Du zurückgekommen?»
Wann immer er nach einer Antwort suche, schreibt Nawalny weiter, fühle er sich frustriert, «weil ich nicht die richtigen Worte finde, um alle meine Gründe verständlich und dieser ständigen Fragerei ein Ende zu machen». Doch eigentlich gebe es dazu keine Geheimnisse oder komplizierten Hintergründe: «Alles ist wirklich ganz einfach. Ich habe mein Land und meine Überzeugungen … Wenn dir deine Überzeugungen etwas bedeuten, musst du bereit sein, für sie einzustehen und, falls nötig, Opfer zu bringen.»
Alexei Nawalny war der talentierteste und wirkungsvollste unter den russischen Oppositionellen, die sich in den vergangenen Jahren öffentlich gegen Putin und sein zunehmend diktatorisch gewordenes Regime exponiert haben. Als Initiant und Anführer von Demonstrationen gegen die Kreml-Kamarilla wurde er in verschiedenen Städten unzählige Male kurzfristig verhaftet. Am meisten Aufsehen aber riefen seine verblüffenden Videofilme über korrupte Machenschaften Putins und seiner Günstlinge hervor, die er mit seinen Mitarbeitern anfertigte und die über YouTube auch in Russland Millionen von Zuschauern erreichten.
Sein spektakulärster Coup gelang Nawalny, nachdem Putins Geheimdienst FSB ihn 2020 zu vergiften versucht hatte und er notfallmässig nach Deutschland geflogen wurde, wo er kuriert werden konnte. Von Deutschland aus gelang es ihm, einen FSB-Mitarbeiter in ein mitgeschnittenes Telefongespräch über die missglückte Vergiftungsaktion zu verwickeln.
Tausende von Sympathiebriefen im Gefängnis
In Deutschland hat Nawalny auch die autobiographischen Aufzeichnungen zu schreiben begonnen, die im vergangenen Jahr, wenige Monate nach seinem Tod in einem russischen Straflager, als Buch unter dem Titel «Patriot» erschienen und in rund zwei Dutzend Sprachen übersetzt worden sind. In dem über fünfhundertseitigen Band schildert der Autor in zwei Kapiteln Begebenheiten und Erfahrungen aus seiner Jugendzeit und aus seiner Arbeit als politischer Aktivist. Er weist sich dabei als lebendiger Erzähler aus mit Sinn für tiefere zwischenmenschliche Gefühle, gesellschaftliche Zusammenhänge, patriotische Leidenschaften sowie mit wacher Neugier und selbstironischen Einsichten.
Am Bewegendsten aber sind für den Leser die Notizen im zweiten Teil dieser Aufzeichnungen, in denen Nawalny Erlebnisse und Reflexionen über seine dreijährige Zeit als Häftling in Putins Gefängnissen und willkürlichem Rechtssystem beschreibt. Gelegentlich wundert man sich auch über Einzelheiten, die auf den ersten Blick den Eindruck eines eher liberalen Gefängnisvollzugs vermitteln – so etwa die Schilderungen über Tausende von Sympathiebriefen, die Nawalny in seiner Gefängniszelle übergeben werden und deren Beantwortung ihm bei allem Trost nicht geringe Mühe bereitet. In Stalins Gulag wären derart massenhafte Korrespondenzen mit Sicherheit nicht möglich gewesen.
«Gefängnis-Zen»
Doch die immer neuen und verlängerten Hafturteile, die die von Putin gegängelte Justiz gegen den prominenten Gefangenen verhängt, lassen bei diesem wenig Zweifel offen, dass der Kreml entschlossen ist, ihn bis zum Lebensende hinter Gittern einzuschliessen. Am Ende summieren sich die Haftzeiten auf über 20 Jahre. Am 22. März 2022 schreibt Nawalny in einem Text, der in dem Buch als Epilog angeführt wird, heute sei ein weiteres Urteil gegen ihn ausgesprochen worden: «Neun Jahre im strengen Vollzug». Ein Gefangener, der noch einmal zu neun Jahren Haft verurteilt wird, sollte zumindest bestürzt reagieren, kommentiert Nawalny in diesem Epilog. Er werde wohl den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen und dort sterben.
«Doch mir geht es wirklich gut», heisst es wörtlich im gleichen Text – und zwar deshalb, «weil die Wirkung meines Gefängnis-Zen eingesetzt hat.» Dieser Gefängnis-Zen bestehe für ihn aus zwei Elementen: Erstens, Verzicht auf Wunschdenken. «Stell Dir das Schlimmste vor, was passieren kann, und akzeptiere es. Das funktioniert, auch wenn es eine masochistische Übung ist.»
Die zweite Technik, schreibt Nawalny, sei «so alt dass du vermutlich mit den Augen rollst, wenn Du davon hörst. Es ist die Religion». Diese Technik sei zwar nur für Gläubige anwendbar, erfordere aber «keine glühenden Gebete am Fenster der Gefängnisbaracke dreimal am Tag (ein sehr häufiges Phänomen in Gefängnissen)". Dieses Bekenntnis überrascht, denn im ersten Teil seiner Erinnerungen hatte Nawalny noch darauf hingewiesen, dass er früher ein durchaus streitbarer Vertreter des Atheismus gewesen sei. Glaubwürdig ist es wohl gerade deshalb, weil Nawalny es ohne jedes Pathos und ohne komplizierte theologische Überlegungen formuliert.
Alexei Nawalny: Patriot. Meine Geschichte. S. Fischer 2024, 543 Seiten