Die Planeten hatten die Zeitenwende bis auf die Sekunde bestimmt. Am 5.August 2020, um 12.44, begann mit der Grundsteinlegung für einen Ram-Tempel die erste wirkliche Unabhängigkeit Indiens, der Beginn des Ram Rajya.
Modi unterwirft sich Lord Ram
Wie immer bei symbolträchtigen Auftritten war Premierminister Modi aufs sorgfältigste gekleidet, in vedisch geschnittenen Roben, dazu in königlichem Brokat und Seide. Safrangelb war der dominierende Farbton, auch für die wenigen Teilnehmer – einige trugen gar safrangelbe Gesichtsmasken.
Als sich Modi nach viel Weihrauch und Sanskrit-Shlokas an die Nation richtete – nun ohne Gesichtsmaske –, zeigte sich, dass er sogar seinen Haar- und Bartstil bei klassischen Darstellungen der Rajput-Krieger geliehen hatte. Und dieser Fürst, jedes Detail ein Ausdruck von Macht und Autorität, streckte sich nun vor seinem Herrscher, Lord Ram, auf dem Boden aus.
Modi wird oft mit Donald Trump verglichen, aber in der Subtilität seines Messaging spielt er auf einer breiten Klaviatur von Symbolen, gegenüber denen Trump ein ständig wiederholter Kinderreim ist. So beherrscht er etwa die Kunst der Auslassung. So erwähnte er mit keinem Wort die mirakulöse Koinzidenz, dass dieser 5. August mit dem ersten Jahrestag der Aufhebung des Bundesstaats Kaschmir und seiner Relegation zu einem zweitklassigen Union Territory zusammenfiel. Kaschmir war der einzige Bundesstaat mit einer muslimischen Mehrheit gewesen.
„Unity in Diversity“ wird umgedeutet
In seiner programmatischen Rede, die hunderte Millionen Fernsehzuschauer erreichte, sprach Modi salbungsvoll von der grossen Diversität Indiens. Sie zeige sich etwa in den vielen Varianten des Ramayana, neben dem Mahabharata das zweite klassische Epos Indiens. Wie gross auch die Varianten seien, ihnen allen liege etwas Gemeinsames zugrunde, nämlich Gott Ram. Er verkörpere wie kein anderes nationales Symbol die indische Identität – Unity in Diversity.
Das klingt harmlos genug, wäre da nicht der kleine Umstand, dass dieses Wortpaar seit der Staatsgründung vor 73 Jahren Indiens säkulare Republik definierte. „Unity in Diversity“ war das Versprechen, dass seine Einheit im friedlichen Zusammenleben aller religiösen Gemeinschaften erreicht sei.
Eine geringfügige Umdeutung eines Slogans macht nun aus der Vielheit der Religionen eine Vielheit von Hindu-Spielarten und definiert damit die Inder als die Hindus unter ihnen. Die grösste religiöse Minderheit wird rhetorisch und symbolisch zur Leerstelle – kein Wort über die indischen Muslime, denen mit einem rhetorischen Trick der Boden ihrer nationalen Identität entzogen wird.
Verachtung für Gandhis Gewaltlosigkeit
Im Vergleich dazu war ein anderes Detail schon fast ein Doppelhänder. Zwei der acht geladenen Teilnehmer der Zeremonie waren Personen, die sich den Ehrenplatz reichlich verdient hatten: Sie stehen weiterhin unter Anklage, die Zerstörung der Moschee an ebendiesem Ort im Jahr 1992 mitorganisiert zu haben. Hätten die Gerichte diesen kriminellen Akt – in seiner Folge verloren über 3000 Menschen ihr Leben – nicht fast dreissig Jahre auf die lange Bank geschoben, sässen sie heute rechtens im Gefängnis statt in dieser brisanten Reality Show.
Premierminister Modis Programm zielt nicht nur auf die Relegierung der Muslime zu zweitklassigen Bürgern ab. Er greift – wiederum mit der Datumswahl – implizit auch andere zentrale Bausteine der indischen Demokratie an. Die Grundsteinlegung am 5. August kam just zehn Tage vor dem Unabhängigkeitstag. Am 15. August 1947 wurde die indische Republik geboren. Drei Jahre später erfolgte die Verabschiedung einer säkularen Verfassung mit allen Charakteristiken einer Westminster-Demokratie.
Die Hindutva-Bewegung, aus der 1953 die BJP hervorging, hatte sich in Mahatma Gandhis Unabhängigkeitskampf kaum engagiert. Für sie war der eigentliche Feind nicht die britische Kolonialherrschaft. Es war das religiöse Joch, das die islamische Herrschaft für viel länger – eintausend Jahre! – den Hindus auferlegt hatte. Sie verachtete auch Gandhis Strategie der Gewaltlosigkeit. Sie war die Ursache für Indiens Schwäche, und nur eine martialische Philosophie konnte den Völkern des Schwertes – Islam und Christentum – die Stirn bieten.
Es war denn auch die verhasste Kongresspartei, die im antikolonialen Kampf alle Lorbeeren eingeheimst hatte und von ihnen fast sechzig Jahre lang als Staatspartei leben konnte.
Ein neuer Gründungsmythos
Das neue Indien braucht deshalb einen neuen Gründungsmythos, ein neues Narrativ. Es lautet: Der Unabhängigkeitskampf ist erst am 5. August 2020 beendet worden, am Tag, an dem Ram Rajya – ein hinduistisches Gottesreich – eingeläutet wurde. Der 15. August wird weiterhin ein schulfreier Tag sein, der Premierminister wird weiterhin seine Ansprache halten. Aber ob diese in Zukunft von den Zinnen des Red Fort ertönen wird, bleibt abzuwarten. Denn die Zitadelle war bis 1857 der Sitz der Mogulherrscher gewesen – ein bleibendes Symbol der Versklavung.
Der RSS, der Kaderverband der Hindutva-Bewegung, war in den sechzig Jahren Kongress-Herrschaft nicht untätig geblieben. Mit einem Bein im Untergrund und dem andern als „unpolitische NGO“ hat er systematisch jede gesellschaftliche und staatliche Gruppe infiltriert. Dasselbe galt für die politische Tochterorganisation, die BJP. Es war ein moderater Mainstream-Politiker, A. B. Vajpayee, der die Bewegung mit demokratischen Mitteln an die Macht brachte
Doch nun hat sich mit Narendra Modi ein radikaler Politiker an die Spitze gesetzt, der mit Pluralismus wenig am Hut hat. Dank der langjährigen Infiltration staatlicher Institutionen ist es ihm gelungen, diese rasch auf seine majoritäre Linie zu bringen. Sein grosser Wahlsieg vor einem Jahr hat es ihm auch erlaubt, die BJP als die einzige grosse Volkspartei zu projizieren. Und er ging rasch ans Werk. Schlag auf Schlag folgten die Aufhebung des Bundesstaats Kaschmir, die Änderung des Bürgerrechts, der Gerichtsentscheid über Ayodhya. Die Weichen sind gestellt.
Parlamentsmehrheit ohne Stimmenmehrheit
Dennoch wird er sich vorsehen müssen. Indien hat immer noch eine demokratische und säkulare Verfassung. Er weiss, dass die grosse Parlamentsmehrheit nicht wie bei einer Proporzwahl die Zahl der Stimmen abbildet. Die BJP errang die zwei Drittel der Parlamentssitze mit 37% der abgegebenen Stimmen, was 24% der eingetragenen Wähler und 15% der Bevölkerung entspricht.
Damit soll nicht verdrängt werden, dass Modi persönlich eine Beliebtheitsrate von über achtzig Prozent aufweist, dass seine Kaschmirpolitik vermutlich von weit über der Hälfte der Inder unterstützt wird. Es mag durchaus sein, dass seine anti-muslimische Politik in der Mehrheit der Bevölkerung einen Anklang findet.
Aber es ist Eines, mit einem muslimischen Nachbarn ein distanziertes Verhältnis zu pflegen und sich zu ärgern über die Lautsprecher, die fünfmal am Tag in die Öffentlichkeit dringen (derweil Geplärr aus dem Tempel als sonores Umfeld einer lebendigen Kultur wahrgenommen wird). Aber wird sich ein Hindu in einem Heloten-Regime wohlfühlen, in dem eine unterdrückte Minderheit ein permanentes Pulverfass vor der eigenen Tür darstellt?
Mit der Tempel-Grundsteinlegung soll nun der politische Gamble – die BJP als einzige nationale Volkspartei, Modi als uneingeschränkter Herrscher – auch auf die religiöse Dimension ausgeweitet werden: Ram als einziger und oberster Volksgott, anstelle der Myriaden von Göttern und Kulten im indischen Pantheon.
Ram – keine unumstrittene Gottheit
Aber so schnell lassen sich die Hindus ihre Götter nicht nehmen. Sie sind Teil einer immer noch vitalen Kultur, die dreitausend Jahre alt ist. Ram ist zweifellos der populärste Gott Indiens. Aber das heisst nicht, dass seine Reduktion auf einen anti-muslimischen Kampfgott von vielen Hindus goutiert wird. Seine Verehrung gründet auf der Gestalt des gerechten und friedvollen Königs. Das Mantra „Jay Shri Ram“ als Kriegsschrei passt schlecht dazu.
Und wie bei jedem indischen Gott kann man auch mit Ram streiten. Er verstösst seine Frau Sita, und dieses Verhalten hat sie heute zu einer Ikone der feministischen Bewegung gemacht – und Ram zum patriarchalischen Sündenbock. Es gibt in Süd- und Ostindien sogar Kulte, die Rams Gegenpart Ravana – ein Archetyp des Bösen – als Helden verehren.
Im Ramayana-Epos ist Ravana der König des dravidischen Südens des Subkontinents („Lanka“). Diese Koppelung einer ethnischen Geografie mit dem Inbegriff des Bösen wollte man sich dort nicht bieten lassen. In südindischen Ramayana-Versionen ist Ravana nicht der Entführer Sitas, sondern bietet ihr Obdach vor ihrem herrschsüchtigen Ehemann.
Was passiert mit der Einheit?
Solche Freiheiten sind natürlich Tabu für die Hindutva-Ideologie, die genau in dieser religiösen Vielfalt die Schwäche der Hindu-Gemeinschaft sieht. Vor einigen Jahren kam es an der Delhi University zu Krawallen, als die BJP-Regierung einen Grundkurs-Essay des Indologen A. K. Ramanujam aus dem Verkehr zog. Er hiess Threehundred Ramayanas.
Einheit und Vielheit bedingen sich, um einem tausendfaltigen Staatswesen Struktur zu geben. Wer weiss, was mit der Einheit passiert, wenn die Vielheit geopfert wird?