Als im Dezember 2008 Israel seinen Krieg gegen die „Islamische Widerstandsbewegung“ (Hamas) begann, war so gut wie jedermann der Meinung, Israel reagiere auf Raketenangriffe der Hamas und anderer islamistischer Gruppen auf sein Territorium. Übersehen wurde dabei geflissentlich, dass Israel zuvor – trotz noch bestehenden Waffenstillstandes - zwei Hamas-Aktivisten getötet hatte.
Hamas will seine Herrschaft zementieren
Der Waffenstillstand lief ein paar Tage später formal aus, und nicht wenige Interpreten der politischen Szene Israels vermuteten, angesichts der für Februar 2009 anberaumten Wahlen wollten sich alle Regierungsparteien - etwa Premier Ehud Olmert und Aussenministerin Tzipi Livni (beide Kadima) - bei den Wählern durch Tatendrang gegen die Hamas auszeichnen. Das Kalkül ging nicht auf, Kadima wurde zwar stärkste Partei, aber Premierminister wurde Benjamin Netanjahu.
Heute, knapp vier Jahre später, regiert Netanjahu immer noch. Und auch diesmal gingen dem Raketenbeschuss aus Gaza israelische Übergriffe im Gazastreifen voraus. Vor ca. 10 Tagen wurde ein zwanzigjähriger geistig behinderter Mann, der sich in der Nähe der Grenze aufhielt, von israelischen Soldaten erschossen, die sich aus bis jetzt unbekannten Gründen, im Gazastreifen aufhielten. Vergangenen Samstag wurde ein Dreizehnjähriger beim Fussballspielen vor seinem Haus von einem israelischen Geschoss getötet.
Zufall oder nicht: Da passt es gut, dass abermals Wahlen bevorstehen und beide Seiten die Gelegenheit haben, militärische Stärke zu zeigen. Die Hamas etwa kann Benjamin Netanjahu im wahrsten Sinne des Wortes unter Beschuss nehmen – und ihrer eigenen Klientel und den von ihnen unterdrückten Palästinensern im Gazastreifen zeigen, dass sie aufrechte palästinensische Patrioten sind, dass, mithin, ihre Herrschaft – die derzeit jeder demokratischen Legitimation entbehrt, weil seit den siegreichen Wahlen von 2006 durch keine neue Abstimmung bestätigt - durchaus gerechtfertigt ist.
Netanjahu nützt den zugespielten Ball
Netanjahu seinerseits hat den ihm so zugespielten Ball gerne aufgefangen. Natürlich muss er seine Bürger vor bewaffneten Angriffen schützen. Aber angesichts des beginnenden Wahlkampfes kann er mit seiner harschen Reaktion den Wählern auch suggerieren, dass er der richtige Mann sei, um Israels Sicherheit zu garantieren.
Wirklich?
Die Indizien, dass Militärschläge gegen die Hamas Israel keine Sicherheit bringen, sind allzu erdrückend. Über 1300 Palästinenser starben während des israelischen Feldzuges gegen die Hamas in Gaza 2008/2009, doch die Infrastruktur der Hamas wurde nicht entscheidend zerstört. Führende Hamasmitglieder wie ihr Gründer, Scheich Ahmed Jassin, wie Abdelasis Rantisi, wie der Bombenbauer der Hamas, Yahya Ayyash, wurden von Israel ermordet, doch geschwächt hat das die Hamas nur zeitweise. (Jassin und Rantisi starben 2004, Ayyash 1996).
Israels Risiken
Auch die „ausserjuristische Tötung“ - wie der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan solche Aktionen nannte - des Hamas Militärchefs in Gaza Ahmad Jabaris durch Israel wird die Gruppe nur vorübergehend schwächen. Netanjahu und sein neuer Wahlbündnispartner, Aussenminister Avigdor Lieberman, riskieren mit solchen Aktionen einen neuen Krieg um Gaza – und womöglich eine Ausweitung des Konfliktes. Die ohnehin steigende internationale Isolation Israels würde sich verstärken. Und Netanjahu und Lieberman hätten wissen müssen, dass Jabaris' Hinrichtung ein intensives Bombardement aus Gaza zur Folge haben würde.
Die Frage sei erlaubt, ob Netanjahu und seine Gefolgsleute diese Konsequenz bewusst in Kauf genommen haben, um sich bei den kommenden Wahlen als die wahren Verteidiger Israels präsentieren zu können.
Beidseitige Verantwortung
Zu wahren Verteidigern Israels wären Netanjahu und seine Anhänger, aber auch die Mitglieder der Arbeitspartei, geworden, wenn sie den 1993 in Oslo begonnenen Friedensprozess aktiv gefördert hätten, statt auf dem den Palästinensern verbliebenen Land ständig neue Siedlungen zu bauen und Palästinenser in einer leisen, aber andauernden Aktion allmählich aus dem Jordantal zu vertreiben.
Aber auch die Hamas trägt ein gerüttelt Mass an Verantwortung für die palästinensische Katastrophe. Ihre Selbstmordattentate gegen friedliche Zivilisten des international anerkannten Staates Israel (in den Grenzen vom Mai 1949 bzw. vom 3.Juni 1967) hat die Sache des palästinensischen Unabhängigkeitskampfes diskreditiert und ihm zumindest phasenweise internationale Anerkennung gekostet.
Krieg und Isolierung löst kein Problem
Aus all diesen Gründen greift zu kurz, wer den jetzt wieder einmal drohenden Krieg nur aus kurzsichtiger Tagesperspektive sieht. Dass ein neuer Krieg um Gaza nur eine Frage der Zeit sei, haben viele schon kurze Zeit nach dem Waffengang von 2008/2009 vorausgesagt. Denn gelöst hatte dieser Krieg – wieder einmal – kein einziges der Probleme. Und wer heute - wie etwa Israel, die Europäische Union und die USA - die "Radikalisierung" der Hamas beklagt, der muss daran erinnert werden, dass er selber zu dieser Radikalisierung in erheblichem Umfang beigetragen hat.
Nachdem im Jahre 2006 die Hamas die vor allem von den USA und der EU geforderten Parlamentswahlen gewonnen hatte, waren es eben die USA und die EU, die dieses Ergebnis nicht anerkannten – weil es nicht in ihr anti-islamistisches Konzept passte. Wahlen ja – aber nur, wenn ihr so wählt, wie wir es wollen - so muss man die Haltung der westlichen Regierungen interpretieren.
Israels ungerührte Siedlungsexpansion
Dermassen ausgeschlossen vom demokratischen politischen Prozess „radikalisierte“ sich die Hamas abermals. Die begnadeten Geostrategen aus dem Westen hätten es besser wissen müssen. Auch die PLO Yassir Arafats kämpfte einst mit Waffen gegen Israel – bis es gelang, sie in den diplomatischen Prozess einzubeziehen. Wäre man mit dem Wahlsieger Hamas ebenso verfahren, befände man sich womöglich nicht heute schon wieder im Kriegszustand mit der „Islamischen Widerstandsbewegung“. Doch hinter den Rauchschwaden des Krieges kann Israel in aller Ruhe seinen Siedlungsausbau fortsetzen.
Die ständige Vereinnahmung palästinensischen Landes durch alle israelischen Regierungen, die seit 1993 im Amt sind, stellt den Hauptgrund für das Ende des Friedensprozesses und damit auch für die abermals bedrohliche Lage im Gazastreifen dar.
Doch die internationale Situation hat sich verändert. Zwar musste der wiedergewählte amerikanische Präsident Barack Obama seinem ungeliebten Partner Netanjahu Unterstützung gegen die Hamas versprechen. Aber an Israels Grenze zu Ägypten haben sich die politischen Koordinaten dramatisch gewendet. Das Regime Hosni Mubarak hatte den Israelis praktisch freie Hand gelassen, wann immer sie gegen die von Mubarak gehasste Hamas vorgingen. Heute aber regiert die Muslimbruderschaft in Ägypten. Und die Hamas, 1987 beim Ausbruch der ersten palästinensischen Intifada gegründet, ist aus der palästinensischen Muslimbruderschaft entstanden.
Das neue Verhältnis Ägyptens zu Israel
Da überrascht es nicht, dass Präsident Mohammed Mursi seinen Premierminister mit einer Delegation nach Gaza schickt. Der Grenzübergang Rafah wird – im Gegensatz seinerzeit zu Mursis Vorgänger Mubarak – für Notfälle offen gehalten. Und ganz sicher kann sich Israel nicht sein, dass sich nicht auch allmählich die militärische Lage zu seinen Ungunsten ändert. Der Friedensvertrag von Camp David 1979 gab Israel bis heute die Sicherheit, keinen Zweifrontenkrieg mehr führen zu müssen.
Prompt liess Ariel Sharon 1982 seine Truppen in den Libanon einmarschieren, um die PLO Arafats zu vertreiben. Ohne Friedensvertrag hätte Israel sein Libanonabenteuer womöglich nicht gewagt. Heute aber stellen viele Ägypter – mehr denn je – diesen Friedensvertrag in Frage.
Die Tragödie der Gaza-Bevölkerung
Was in der durchschnittlichen kurzatmigen Fernsehberichterstattung - die sich überwiegend mit Ausdrücken wie „Extremisten oder radikalislamische Hamas“ zufrieden gibt – meistens untergeht, ist die eigentliche Tragödie Gazas: Hier sitzt seit Jahrzehnten eine Bevölkerung – heute ca. 1,5 Millionen Menschen – wie im Gefängnis. Die Jugend ist ihrer Zukunft beraubt, die Älteren haben nie ein normales Leben führen können. Kein Wunder, dass aus diesem Gefängnis immer wieder Ausbruchsversuche gemacht werden – in Form von Raketenangriffen. Und kaum in die Öffentlichkeit dringt auch folgende für die Palästinenser tragische Statistik: im Jahr 2011 kamen in Gaza durch israelische Angriffe 108 Menschen ums Leben – darunter 15 Frauen und Kinder, 458 Palästinenser wurden verletzt, darunter 143 Frauen und Kinder. Bis September 2012 verloren 55 Palästinenser in Gaza ihr Leben, 257 wurden verletzt.
Wer den neuesten Waffengang um Gaza verstehen will, muss in erster Linie die Leiden der dort eingepferchten Menschen berücksichtigen. Deren Schicksal zu beklagen heisst nicht, die israelischen Opfer - es sind zahlenmässig sehr viel weniger - als Nebensache abzutun.