Mit „Gallus, der Fremde“ legt Gabrielle Alioth ihren zehnten Roman vor. Das Schicksal von Gallus, so schreibt sie in ihren einleitenden Worten, hätte sie immer beschäftigt, vor allem aber, weil er von Irland nach Europa ausgewandert sei. Sie schreibt weiter, auch sie hätte Irland für eine Weile verlassen müssen, und so wollte sie herausfinden, wie es Gallus in der Fremde ergangen sei, warum er sich von seinen Gefährten getrennt hätte und warum er nie nach Irland zurückgekehrt sei. (Alioth ist inzwischen nach Irland zurückgekehrt.)
Das Buch beginnt in der Einsiedelei oberhalb des Bodensees, wohin sich Gallus am Ende seines Lebens zurückgezogen hatte. Gallus döst da vor sich hin und träumt von dem Hund, der in der Bucht den weissen Schaumrändern ausrollender Wellen nachjagt. Gallus wird nicht mehr lange leben. Der Text ist eine Rückblende, die von Gallus’ Träumen erzählt. Gleich zu Beginn verwirren zwei Dinge. Die Gattung Roman und das Attribut „der Fremde“.
Soviel vorweg: „Gallus, der Fremde“ ist kein Roman. Man muss allerdings einräumen, dass heutzutage ein Text in ein (Verkaufs)regal passen muss. Gedichte. Romane. Biografien. Autobiografien. Geschichtsbücher. Die Leserin will wissen, worauf sie sich einlässt. Roman tönt immer gut, da gibt es eine Story, die einen vorwärtsträgt. Das ist hier nicht der Fall.
Wieso der Fremde? Diese Frage wird nicht explizit beantwortet. Fremd, weil er ein Schweizer Urgestein ist, der aus der Fremde kam? Fremd, weil wir nichts Gesichertes über ihn wissen? Gesichert ist St. Gallen. Gesichert ist die Stiftsbibliothek. Gallus, der Fremde: Kam er nun aus Bangor (Irland) oder aus Ostfrankreich? Gab es ihn überhaupt?
Die Autorin weiss nicht mehr als diesen Namen. Sie stellt sich vor, wie es gewesen sein könnte. Da war dieser andere, Columban, von dem wir auch nichts Gesichertes wissen, ausser, dass er, betagt schon, mehrere Klöster gegründet hat. Zum Teil sind Gallus und Columban auch Schachfiguren im Machtspiel der Könige und des Papstes. Diese Auseinandersetzungen sind allerdings erhalten geblieben. Das erstaunt nicht. Die Mächtigen hinterliessen ihre Spuren, so wie sie es heute auch tun. Die Kirche wehrte sich gegen den Staat, ein Muskelspiel mit allem, was dazu gehört: Bestechung, Mord, Missbrauch, Segnungen, Hilfestellung. Geblieben sind die Verträge, Garantien und die Schutzbriefe. Ansonsten basieren die „Biografien“ der beiden Mönche auf Vermutungen.
Der Autorin geht es nicht darum, eine Geschichte zu erzählen oder Fakten aufzuzeigen. Vielmehr erträumt sie Gallus und seine Gefährten. Was diesen Traum spannend macht: Die Autorin träumt sich selber. Nur: Wer nun ist die Autorin? Ist es Gabrielle Alioth? Ist es die Frau, die Gallus besucht, um sein Leben aufzuschreiben? Ist es das Ich, das sich im Text stark macht? Sind alle dieselben?
Das Buch ist nicht einfach zu lesen. Die Lesenden werden in diesen Traum hineingezogen und gezwungen, mitzuweben. Das Schiffchen wird nach links und rechts geworfen. Ziemlich verworren dieser Text.
Alioth hat bislang historische „Romane“ verfasst. Ihr letzter Roman, „Die entwendete Handschrift“, ist ein Krimi und Liebesroman. Ein Text, der in die Gattung Roman passt, auch wenn er letztlich eine persönliche Abrechnung darstellt. Aber es ist ein Roman. Nun also diese Traumerzählung über die irischen Wandermönche, die Irland verlassen, um in Frankreich, Italien und in der Schweiz zu wirken.
Über das Leben und Wirken der beiden Hauptfiguren (Columban und Gallus) erfahren wir nicht mehr, als was wir Wikipedia entnehmen können. Worum geht es dann? Zum einen erleben wir das Leben von damals mit: Dreck, Hunger, Kälte, Tod. Die schmerzhafte Realität des Mittelalters. Sie widert an. Wie auch immer: Die Mönche hatten keine Wahl, sie waren Gottesritter, Auserwählte, die im Namen des Herrn Grossartiges leisten wollten.
Aus der heutigen Sicht tun sie das auch. Die Überfahrt von Irland nach Frankreich in einem etwas grösseren Ruderboot, ohne Kompass, ohne GPS, mit wenig Wasser und wenig Brot, ohne zu wissen, wohin die Reise geht und wie sie enden wird.
Der Roman beginnt mit Gallus, dem sehr alten, kranken Gallus, der aufgefordert wird, sich zu erinnern. Der alte Gallus ist zentral für den Text, denn Gallus sollte seine Geschichte preisgeben. Er erinnert sich aber nur bruchstückhaft, wenn überhaupt, und will der Frau, die alles aufschreiben möchte, nicht wirklich Auskunft geben. Er ist widerspenstig und senil. „Es gehört nicht zu seinen Pflichten, seine Erinnerungen mit jemandem zu teilen.“ Seine Gedanken. Ihr Traum.
Die Frau, die seine Geschichte erfahren will, schreibt von Zeit zu Zeit in der Ich-Form. Ist die Ich-Frau Alioth? Handelt es sich um ein autobiografiches Dokument? Wohl kaum, das Autobiografische ist schnell erzählt: Alioth sucht die Einsiedelei, findet sie, zappt sich in die Vergangenheit. Der Rest ist Imagination. Ist es vielleicht eine andere Art, Tatsachen aufzuzeigen? Ist die Frau eine Historikerin? Versucht sie, die Wahrheit zu er-schreiben? Wie denn, wenn Gallus immer wieder einschläft und sie auf morgen vertröstet. Oft erinnert er sich nicht. Auch sind seine Erinnerungen nicht seine Erinnerungen, sondern die, die sich die Autorin vorstellt. Sind das historische Daten? Und das Vergessene?
Dann gibt es eine zweite Frau. Sie lebt in unserer Zeit. Sie ist mit Andres verheiratet, aber es gibt da auch noch einen anderern Mann: Michael. Die beiden Männer sind Freunde, aber dann kommt es zum Ehebruch. Die Frau muss nun ihr Tal verlassen. Es sind poetische Momente, die diese zweite Frau träumt, die uns Lesenden Erholung offerieren. Oder träumt sie sie nicht? Hat das stattgefunden? Ist das Gabrielle Alioth, die sich hier offenbart?
Gabrielle Alioth: Gallus, der Fremde, Lenos Verlag, 2018 (246 Seiten)