Noch immer sind die helvetischen Medienkanäle angefüllt mit Betrachtungen, Geschichten und Expertenerklärungen zum unglaublichen Sieg der Schweizer Fussballer über den amtierenden Weltmeister Frankreich. Die Euphorie über diese fussballerische Grosstat ist noch nicht verklungen. Auch das heroisch erkämpfte Unentschieden während der regulären Spielzeit gegen die Fussballgrossmacht Spanien fliesst mit ein in das nationale Stimmungshoch. Die davon inspirierten rhetorischen Aufschwünge und Superlative hat mein Journal-21-Kollege Urs Meier näher analysiert.
Hier soll ein anderer Faktor zum kollektiven Erfolgserlebnis in die sportliche Nachbetrachtung einbezogen werden. Es geht um den Einfluss der Grössen Zufall oder Glück. Je nach weltanschaulicher Disposition kann man diese Komponenten auch als Schicksal oder als höhere Fügung bezeichnen. Zu diesem Thema kann man vielerlei Fragen stellen.
War es Glück oder pures Können, dass die Schweizer beim Penaltyschiessen gegen Frankreich alle Bälle ins Tor versenkten? Und war es einfach Pech oder reines Versagen, dass die gleichen Schweizer beim Elfmeter-Duell gegen Spanien drei Mal scheiterten und in der ersten Halbzeit erst noch ein unglückliches Eigentor produzierten? Und was ist die Erklärung dafür, dass beim Ansturm der Spanier gegen das Schweizer Tor eine ganze Reihe von Schüssen gegen die Torpfosten und die Querlatte prallten? Glück für die Eidgenossen oder allein das Resultat einer sensationellen Verteidigungsleistung? Wer bei solchen Beispielen nicht den Zufall und das Glück oder die Macht des Schicksals im Spiel sieht, muss von sehr starkem Glauben an die totale Berechenbarkeit des menschlichen Tuns beseelt sein.
Für den gewichtigen Einfluss des Faktors Glück und Zufall kann man übrigens auch wissenschaftlich gestützte Argumente ins Feld führen. Gemäss einer von der «Frankfurter Allgemeinen» im Juni zitierten Studie der Deutschen Sporthochschule Köln haben Forscher über 7000 Tore aus der englischen Premier League analysiert. Sie kamen zum Schluss, dass bei 46 Prozent dieser Treffer der Einfluss des Zufalls eine wesentliche Rolle spielte. Als Zufallsfaktoren werden zum Beispiel sogenannte Abpraller und Abstauber, Eigentore oder Weitschüsse, die glückhaft im Tor landen, genannt. Eine andere Untersuchung der Technischen Universität München kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Und der «Spiegel» schrieb zu dem Thema, Fussball sei eigentlich «nichts anderes als ein grosses Würfelspiel in gigantischen, extra dafür errichteten Betonschüsseln».
Dennoch überzeugt es nicht, wenn Erfolg und Niederlage im Fussball einseitig auf den unberechenbaren Glück/Zufall-Faktor zurückgeführt wird. Nicht zufällig heisst es im Volksmund, das Glück lache dem Tüchtigen. Hätten Xhaka und Co. gegen die Franzosen beim Rückstand von 3 zu 1 nicht derart grandios und unverdrossen weitergekämpft, hätten sich auch nicht die Chancen zum Ausgleich ergeben. Dass diese Chancen dann zu Torerfolgen führten, dazu gehörte allerdings wieder eine gehörige Portion Glück.
Doch bei allem Respekt vor dem Einfluss des Glückfaktors stellt sich am Ende noch die Frage, weshalb bei Weltmeisterschaftsturnieren der WM-Titel fast jedes Mal an eine Fussball-Grossmacht wie Brasilien, Deutschland, Argentinien, Frankreich, Italien, Spanien oder England geht. Aber auch bei dieser vermeintlichen Regel gibt es Unwägbarkeiten, die Hoffnungen für bescheidenere Fussballnationen offen lassen: 1930 und 1950 gewann das kleine Uruguay die Weltmeisterschaft.