Die 57-jährige, aus Venedig stammende, in Deutschland tätige Monica Bonvicini ist mit Skulptur und Installation, Fotografie und Video sowie insbesondere Zeichnung hervorgetreten und vielfach ausgezeichnet worden. In Winterthur zeigt sie die höchst eindrückliche Serie «Hurricanes and Other Catastrophes».
Vierzehn Jahre lang hat sich Monica Bonvicini malerisch mit «Hurricanes and Other Catastrophes» beschäftigt. Wie das? Nachdem sie zur ersten Biennale in New Orleans eingeladen war, begann die auch als Fotografin tätige Künstlerin die nach dem Wirbelsturm Katrina verwüsteten Viertel zu fotografieren. Der mächtige Hurrikan hatte 2005 den gesamten Südosten der USA getroffen. Besonders im Grossraum New Orleans waren die Verheerungen enorm. Über 1’800 Menschen kamen ums Leben, Zehntausende verloren ihre Häuser samt Hab und Gut.
Die visuellen Codes der Katastrophenbilder sind so vertraut, dass schon ein flüchtiger Blick genügt, sie zu entschlüsseln.
Katastrophen sind in den Medien jeden Tag zu sehen. Bilder von Überflutungen, Erdbeben, Waldbränden, Erdrutschen, Dürren gehören zu den weltweiten Nachrichtenströmen. Ihre visuellen Codes sind den Medienbenützern so vertraut, dass schon ein flüchtiger Blick genügt, um ein Bild zu entschlüsseln und einer bestimmten Ereigniskategorie zuzuordnen. Dieser reflexartige Umgang mit Katastrophenbildern lässt Emotionen nur kurz aufflackern, da der kontinuierliche Zustrom an dramatischem Bildmaterial das Erschrecken jeweils rasch mit neuen Eindrücken überdeckt.
Monica Bonvicini beliess es nicht bei der fotografischen Annäherung an die Katrina-Katastrophe. Sie suchte eine eindringlichere, konzentriertere Form der bildlichen Antwort auf diese radikale Infragestellung der menschlichen Existenz. Kunst kann sich nicht damit zufriedengeben, menschliche Erfahrungen nur im Vorübergehen zu streifen. Sie sucht nach deren verborgener Wahrheit.
In der klassischen Ästhetik nannte man diesen nur durch die Kunst erfahrbaren Kern des Wirklichen «das Erhabene». Dieses kann genauso gut Wohlgefallen wie Furcht erregen. Kunst wendet sich immer auch den dunklen Seiten der Wirklichkeit zu. Und dieses zur Kunst geronnene Dunkle kann schön sein, Darstellungen des Schrecklichen vermögen ästhetischen Genuss zu bereiten.
Dieser befremdliche Umstand hat das Nachdenken über Kunst stets herausgefordert. Aristoteles löste in seiner Poetik das irritierende Rätsel um den Genuss des Schreckens mit der Theorie der Katharsis: Durch die in der Tragödie vermittelte symbolische Erfahrung von Furcht und Mitleid macht der Zuschauer einen Prozess der inneren Reinigung durch. Solche Katharsis ist schön, weil sie – in ähnlicher Weise wie die Begegnung mit dem Vollkommenen – den Menschen menschlicher macht.
Die Darstellung des Schrecklichen in der Kunst ist schön, weil sie den Menschen menschlicher macht.
Ereignisse wie Wirbelstürme oder Erdbeben oder die wochenlang in weiten Gebieten wütenden Waldbrände vernichten in grossem Ausmass menschliche Existenzen. Von solchen Katastrophen zu wissen, ist für unbeteiligte Zuschauer eine Beunruhigung, die sie sich vielleicht gar nicht eingestehen. Hinter dem kurzen Aufflackern ihres Mitleids lauert stets die Angst vor einem vielleicht wenig wahrscheinlichen, aber eben doch grundsätzlich möglichen eigenen Opferschicksal. Das ist die verborgene Wahrheit hinter der abgestumpften Routine im Umgang mit Katastrophenbildern.
Wahrheiten dieser Art ist Monica Bonvicini mit ihren grossformatigen Malereien auf der Spur. Diese orientieren sich an der Bildstruktur schwarzweisser Fotografien, die mit maximalem Hell-Dunkel-Kontrast eine graphische Wirkung erlangen. Bonvicini gelingt es, mit kraftvollem Pinselgestus in schwarzer Tempera auf Papier, sparsam ergänzt mit schwarzer Sprühfarbe, in verfremdeter Form eine naturalistische Bildwirkung zu erzeugen. Die grossen Formate ihrer Arbeiten – in einem Fall sind es fast sechs Meter Breite – sind für die Wirkungen essentiell, da sie die Betrachter förmlich auf die maltechnische Auflösung der Bildinhalte stossen. Der scheinbar freie Pinselduktus kippt erst bei genügender Betrachtungsdistanz in einen realistischen Bildeindruck. Dabei erlangen bei Brandsujets die weissen Flächen der Gluten und Flammen eine ungeheuer suggestive Wirkung. Man meint das Feuer fauchen zu hören.
Einige der fast siebzig ausgestellten Arbeiten der Serie «Hurricanes and Other Catastrophes» verbinden Malerei und Text. So liest man etwa die Sentenz «anger ist the greatest inspiration» – ein versteckter Hinweis darauf, dass Katastrophen vielfach indirekt menschengemacht sind und Anlass zu berechtigtem Zorn geben. Andere Texte sind kryptisch; sie erklären und kommentieren die Bilder nicht, sondern stören sie gewissermassen mit unerwarteter Leichtigkeit, subversiver Verspieltheit oder fremdartiger Poesie.
Menschen sieht man auf Monica Bonvicinis Bildern nicht. Sie sind geflohen oder gar ums Leben gekommen, allfällige Retter haben sich längst in Sicherheit gebracht. Bildthema ist immer die menschliche Behausung oder das, was in der Katastrophe von ihr übrigbleibt. So wird die Serie zu einer inständigen Betrachtung einer Grundbedingung menschlichen Daseins. Menschen müssen behaust sein, sie können nicht sein ohne einen Ort, an dem sie geschützt sind. Werden sie dieses Schutzes beraubt, so sind sie existentiell gefährdet. Wenn Häuser verloren gehen – durch Stürme, Wasserfluten, Erdstösse, Feuer, Krieg, Vertreibung oder auch Vorgänge wie die Subprime-Krise –, dann verlieren Menschen alles, was sie an Sicherheiten für ihr Dasein benötigen.
Menschen müssen behaust sein, sie können nicht sein ohne einen Ort, an dem sie geschützt sind. Werden sie dieses Schutzes beraubt, so sind sie existentiell gefährdet.
Das Angewiesensein auf Behausung – samt allem, was diese ermöglicht – versetzt den Menschen grundsätzlich in eine Situation der physischen, sozialen und existentiellen Bedürftigkeit. Sein Leben und Überleben hängen immer an äusseren Bedingungen, denen ein beunruhigender Rest von Unsicherheit anhaftet.
Monica Bonvicini stellt diesen Umstand eindringlich vor Augen durch die expressive Form ihrer Malerei und die insistierende Wirkung ihrer Serie. Ohne direkt zu appellieren oder gar anzuklagen, erzeugt die geballte Präsenz der kraftvollen Bilder eine Dringlichkeit, die sich abhebt von der routiniert dosierten Betroffenheit beim Anblick von Katastrophenbildern in den Medien. Wer Bonvicinis Serie betrachtet, ist nicht Zaungast eines fernen Weltgeschehens, sondern sieht sich konfrontiert mit eigenen Verlustängsten und damit mit einer Wahrheit, die im Alltag meist ausgespart bleibt – und ja auch bleiben muss.
Die geballte Präsenz der kraftvollen Bilder erzeugt eine Dringlichkeit, die sich abhebt von der routiniert dosierten Betroffenheit beim Anblick von Katastrophenbildern in den Medien.
Kunst kann nur schön sein, indem sie wahr ist. Handwerkliche Vollkommenheit ist noch nicht das Schöne; sie ist Vorbedingung für dessen Ermöglichung. Mit der Serie «Hurricanes and Other Catastrophes» erfüllt Monica Bonvicini die Vorbedingung souverän, um auf dieser Grundlage die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema zu wagen. Ihre Bilder tasten sich vor zur untergründigen Faszination, die Katastrophen auf Zuschauer ausüben. Sie loten die meist nicht bewussten Dimensionen dieser Schaulust aus, zu denen eine verdrängte Angstlust genauso gehört wie das Mitleid, das schon Aristoteles als das Menschliche bei Tragödien erkannt hat.
Kunst Museum Winterthur | Beim Stadthaus: Monica Bonvicini, Hurricanes and Other Catastrophes, kuratiert von Konrad Bitterli
bis 13. November 2022