Aus Anlass der Preisverleihung hat sich die syrische Menschenrechtsaktivistin Razan Zaitouneh öffentlich an die russische Journalistin gewandt. Die Syrerin gewann den „Raw in War“-Preis im vergangenen Jahr.
„Liebe Anna
Ich fühle die Ironie des Schicksals. Zum einen, weil ich dir, Anna Politkovskaya, erneut schreibe nach einem Jahr, das wie ein Jahrhundert vorübergegangen ist, während wir immer noch zwischen Traum und Tod taumeln.
Zum andern, weil ich beauftragt worden bin, den Preis in deinem Namen einer anderen Frau zu überreichen, die uns verlassen hat, während sie versuchte, uns die Wahrheit näher zu bringen, die sie das Leben kostete. Marie Colvin, die furchtlose Reporterin, hat sich nie davor gefürchtet, die Wahrheit selbst im Angesicht des Todes aufzuspüren.
Das Symbol der Revolution
Marie ist in viele Länder gereist, die von Kriegen und Konflikten heimgesucht wurden, um Zeugnis abzulegen. Sie verlor ein Auge, während sie über den Bürgerkrieg in Sri Lanka berichtete. In Syrien hat Marie das Zentrum der Revolution, Homs, auserwählt, um in Bild und Ton über einen Aspekt jener Revolution zu berichten, die das Regime in einen totalen Krieg gegen die Syrer verwandelt hat. Marie traf eine gute Wahl.
Damals war Homs, Fokus der meisten Journalisten, das Symbol der Revolution und stand für das Überleben trotz des gefrässigen Todes. Bis zuletzt hat Marie Berichte übermittelt, welche die hässlichen Verbrechen dokumentierten, die gegen die Stadt und deren Bewohner begangen wurden. Innert Sekunden aber wurde sie selbst zur Schlagzeile und zum Stoff für Nachrichten.
Stete Todesgefahr
Rund 70 ausländische Reporter und lokale Bürgerjournalisten sind bisher während den Monaten der Revolution gestorben. Die Granaten und Panzer machen keinen Unterschied zwischen dem, der die Kamera oder den Kugelschreiber hält, dem Demonstranten, der Plakate trägt, oder dem Kind, das die Zukunft in seinen kleinen Händen hält.
Jeder, ohne Ausnahme, ist Ziel einer zerstörerischen, unersättlichen Kriegsmaschine. Sie differenziert nicht zwischen Syrern und Nicht-Syrern, solange Begriffe wie Freiheit und Wahrheit zu deren Wortschatz gehören: Marie Colvin, Rémi Ochlik, Mazhar Tayyara, Basil Shehadeh, Rami al-Sayed, Anas Tersheh, Mika Yamamoto, Hassan Azhari und Dutzende weiterer Medienleute.
Wir haben ihre Artikel und ihre Bilder gesehen und ihre Nachrichten weiterverbreitet, ohne jene Leute gross zu beachten, die hinter der Kamera, dem Mikrofon oder dem Laptop arbeiteten. Erst später merkten wir, dass sie stets in Todesgefahr waren.
Kein normales Leben mehr
Es heisst, Marie Colvin sei ihrer Schuhe wegen gestorben. Sie zog sie aus, als sie die Eingangshalle jenes Gebäudes betrat, das als revolutionäres Medienzentrum der Gegend diente. Als der Beschuss begann, rannte Marie zurück, um ihre Schuhe zu holen, um mit den andern zu fliehen. Doch die Granate wartete nicht. Sie und ihr Kollege, Rémi, wurden zusammen mit weiteren Menschen getötet.
Es scheint eine schändliche, erniedrigende Tatsache zu sein, aber es zeigt auch, Anna, die Wirklichkeit eines Landes, in dem es unmöglich geworden ist, irgendein Leben zu führen, mit all den alltäglichen, trivialen kleinen Gewohnheiten, die uns zu normalen Menschen machen.
Die Zahl der Märtyrer ist inzwischen auf über 30 000 gestiegen, einschliesslich 2650 Kinder und 1700 Frauen. Wir arbeiten unermüdlich daran, ihre Porträts zu sammeln und neugierig Einzelheiten ihrer verlorenen Leben aufzuspüren. Wir versuchen verzweifelt, Mementos ihrer Existenz zu retten.
Die Zerstörung der Erinnerung
Das ist nur ein kleiner Teil unserer Pflicht ihnen gegenüber, aber auch ein wichtiger Bestandteil des Versuchs, dem Tod Widerstand zu leisten, ein Versuch, den wir, die Lebenden, unternehmen.
In meinem Land ist kein Stein auf dem andern geblieben – die Armee der Regierung hat mit unablässiger Zerstörung dafür gesorgt. Gewöhnlich hören wir das Dröhnen eines Jets, und, ein paar Sekunden später, das Krachen der Bomben.
Dann warten wir kurze Zeit ab und beginnen, die Märtyrer zu zählen. Und wir sehen uns ein Video an, das zeigt, wie etwas, was einst ein Gebäude war, mit Stockwerken, Wohnungen, Möbeln, Kinderbetten, Familienfotos und Spielsachen, zum einem Haufen Staub und Dreck geworden ist. Alte Quartiere und Märkte, die Archive unserer Erinnerungen und Quellen unserer Geschichte, und Gassen, Gefässe unserer Erinnerungen, sind niedergebrannt worden und unsere Herzen sind mit ihnen verbrannt. Vielleicht habe ich kein Recht, mich zu beklagen, Anna. Du hast für deine Überzeugungen mit dem Leben bezahlt.
Ein paar wohlfeile Worte
Marie, die wir heute in deinem Namen ehren, hat denselben Preis bezahlt. So wie deine Freundin und erste Empfängerin dieses Preises, Natalia Estemirova aus Tschetschenien.
Dennoch kann ich es nicht fassen, wie beschränkt und blöd die Welt, die Regierungen und die Regime in Ost und West sind. Meinem Gefühl nach gibt es keinen Unterschied zwischen der Regierung, Anna, die für deinen Tod verantwortlich ist, indem sie hinter einem kriminellen und mörderischen Regime stand, und jenen Regierungen, die deine Ermordung verurteilt haben, so wie sie das Töten von Tausenden meiner Landsleute verurteilten.
Müde und traurig, aber entschlossen
Aus irgendeinem Grund finden sie keinen Anlass, kein genügendes Interesse, um Menschenleben mit mehr als nur ein paar wohlfeilen Worten zu verteidigen. Diese Worte, Anna, gehören allein dir und Marie, Rami al-Sayed, Jel Jakiye, Abdul Aziz al-Sheikh, Mohammed Badie al-Kasem und allen andern, die mit viel Liebe und Entschlossenheit Worten und Bildern eine neue Bedeutung gegeben habe.
Schliesslich, Anna Politkovskaya, lass mich in deinem Namen deine mutige Kollegin Marie Colvin ehren.
Ebenso möchte ich all jene ehren, die in ihren Herzen die Flamme der Freiheit und der Wahrheit nähren; in Syrien, das zwar müde und traurig, aber nach wie vor entschlossen ist, die Freiheit zu gewinnen; im besetzen Palästina; in Tschetschenien; in Darfur; in Afghanistan; in den Ländern des Arabischen Frühlings; in Staaten, deren Völker keine Gelegenheit haben, aufzustehen; im Iran, wo sich die Menschen danach sehnen, von der Tyrannei befreit zu werden; und in jeder Ecke dieser Welt, wo Menschen noch immer dafür leiden, in Freiheit und Würde leben zu können.“
(Übersetzung: Ignaz Staub)
Quelle: Index on Censorship