Der designierte deutsche Kanzler Scholz hat mehrfach gesagt: «Wer bei mir Führung bestellt, muss wissen, dass er sie dann auch bekommt.» Woran liegt es, dass dieser Satz merkwürdig verquer wirkt und so gar kein Vertrauen in «Führung» weckt?
Die grundsätzliche Frage besteht darin, ob das Wort «Führung» überhaupt noch in unsere Zeit passt. Andere Begriffe wie «Diskussion» oder «Abstimmung» sind an seine Stelle getreten. Parteien und ihre diversen Organisationen und Gruppen sind ständig damit beschäftigt, Stimmungen und Meinungen auf einen abstimmungsfähigen Nenner zu bringen. Damit treten sie gegenüber anderen Parteien auf, und irgendwann und irgendwie entstehen daraus Koalitionen wie jetzt bei der Ampel in Berlin.
Der gute Surfer
In diesen Gemengelagen entsteht ein Typus von Politikerinnen und Politikern, der sich geschmeidig an dominante Strömungen nicht nur anpasst, sondern sich auch wie ein Wortführer an ihre Spitze setzt. Aber die Bedingung ist klar: Wie ein Surfer muss sich ein solcher Politiker der Welle, die ihn trägt, anpassen. Patzt er, bricht die Welle über ihm zusammen.
Der meisterhafte Surfer hat herausragende Qualitäten. Er erahnt und spürt, was die Welle in den nächsten Sekundenbruchteilen und Sekunden machen wird, bevor sie es selber «weiss». Erst dadurch kommt er in Einklang mit ihr und kann ihre Kraft nutzen. Andernfalls wirft sie ihn vom Brett.
Olaf Scholz hat die politische Konstellation, in der er jetzt wahrscheinlich Kanzler werden wird, wie ein guter Surfer vorausgesehen und richtig eingeschätzt. Einzig Robert Habeck hätte ihm das Kanzleramt streitig machen können, wenn die Grünen sich aufgrund ihrer internen Arithmetik nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bei der Kanzlerkandidatur geeinigt hätten. Dieser Kelch ging an Scholz vorüber. Aber wer soll denn nun gerade bei ihm «Führung bestellen»?
Kokon der Zustimmung
Was schon «bestellt» wurde und weiterhin erwartet wird, ist, dass Scholz mit feinem Gespür den jeweiligen Stimmungslagen seiner Koalitionspartner Ausdruck verschafft. Er wird hier und da seinen politischen Partnern um ein Winziges voraus sein, so dass er Dinge sagt, die ihnen in diesem Moment noch nicht ganz so eingefallen wären. Seine Führungskunst besteht dann wiederum darin, ihnen nicht dass Gefühl zu geben, dass er ihnen für ein paar Augenblicke voraus war.
Führung in diesem Sinne ist immer in den Kokon der prinzipiellen Zustimmung der gremienbefrachteten politischen Partner eingesponnen. Das ist die Führung, die sich «bestellen» lässt. Aber in dem Wort «Führung» liegt noch eine andere Bedeutung. Und die klingt immer auch an, obwohl sie einen Überschuss markiert, der heutzutage so tabu ist wie früher die Unaussprechlichkeiten der bürgerlichen Ehe.
Die Weisheit der Führung
Wer wirklich führt, riskiert. Er setzt das, was er für richtig und für geboten hält, auch gegen Widerstände durch. In kritischen Situationen trifft er Entscheidungen, ohne sich vorher so weit abzusichern, dass ihm auch dann, wenn es schiefgeht, keine negativen Konsequenzen drohen. Die schwer verdauliche Wahrheit guter Führung besteht darin, dass derjenige, der führt, etwas kann und weiss, was andere noch nicht voll überblicken können.
Dagegen werden Beispiele für politische Verführung angeführt. Aber diese Beispiele genügen nicht, um die besondere Qualität guter politischer Führung so zu diskreditieren, dass man gleich ganz auf sie verzichtet. Auch in der jüngeren politischen Geschichte hat es richtungweisende Politikerinnen und Politiker gegeben, die etwas gesehen haben, was anderen noch verborgen war. Sie standen für ihr Wissen und ihre Überzeugungen gerade dann ein, wenn sie nicht sofort eine Mehrheit hinter sich wussten. Und das ist eben das Schiefe an den Worten von Olaf Scholz: Eine Führung dieser Art lässt sich nicht «bestellen».