Wie kam es zur Frontalkollision zwischen dem vorwiegend auf repräsentative Funktionen beschränkten Präsidenten und der lettischen Volksvertretung? Zatlers’ emotionale Ansprache im Fernsehen geisselte den mangelnden Respekt der Abgeordneten vor dem lettischen Justizsystem. Er zielte auf die parlamentarische Entscheidung, welche dem Generalstaatsanwalt die geforderte Aufhebung der parlamentarischen Immunität für die Hausdurchsuchung bei einem Abgeordneten verweigerte. Es ging um Ainars Slesers, den Bürgermeister der Hafenstadt Ventspils (Lemberg). Dieser gehört zu den lettischen „Oligarchen“. Er war früher Verkehrsminister und geniesst als Abgeordneter parlamentarische Immunität. Da er die grüne Bauernallianz mit 22 Parlamentssitzen beherrscht und offenbar auch in der Politik über unbeschränkte Geldmittel verfügt, scheiterten bisher alle Versuche der Antikorruptionsbehörde, diesen „lettischen Berlusconi“ wegen Geldwäscherei, Steuerhinterziehung und Amtsmissbrauch anzuklagen.
Valdis Zatlers war parteiloser Chirurg ohne politisches Profil, als er zum Präsidenten gewählt wurde. Die Bevölkerung vermutete damals, dass er von den „Oligarchen“ als willfährige Figur in dieses Amt gehievt werde. Die politische Stimmung ist in Lettland schon seit Jahren äusserst schlecht. Bei einer Umfrage im März dieses Jahres waren bloss 11 Prozent der Bürger mit ihrer Regierung zufrieden und im Jahre 2010 sogar nur 5 Prozent. Weil man auch die Präsidentenwahl im Parlament für eine abgekartete Sache hält, optiert bei Umfragen immer eine grosse Mehrheit für eine Direktwahl des Präsidenten durch das Volk. Zatlers hat sich in seinem Amt zu einem unbequemen Mahner entwickelt, der vor allem die Korrumpierung der Politiker kritisiert. Er konnte also bei seiner Forderung nach einer vorzeitigen Neuwahl des erst im Herbst 2010 gewählten Parlamentes auf Sympathie im Volk zählen.
Möglicherweise trat er mit seiner Forderung bewusst die Flucht nach vorne an und provozierte die Konfrontation. Bei der vorausgesagten Wiederwahl gab es erhebliche Zweifel. Zwar konnte er bei seinem Kampf gegen die Korruption auf den regierenden Einheitsblock von Regierungschefs Dombrovski zählen. Aber die Grüne Bauernallianz von Ainars Slesers als Koalitionspartner äusserte sich zweideutig und wechselte angesichts des Konflikts um die Aufhebung der parlamentarischen Immunität ihres starken Mannes die Meinung. Sie setzte jetzt auf den ehemaligen Bankier Andris Berzins, dessen Wahl sie am 2. Juni im Parlament sicherstellte. Der 66-jährige Berzins ist mehrfacher Millionär und gilt als der reichste Pensionär Lettlands, der von seiner Bank zudem die für Lettland luxuriöse monatliche Rente von 5600 Euros bezieht. Mit seiner komfortablen und vom Volk abgehobenen Lebensweise ist der Bankier für die „Oligarchen“ eindeutig die bessere Lösung. Und es war offenbar auch kein Problem, bei den als korrupt bezeichneten und mit Ablösung bedrohten Parlamentariern einen Stimmungswechsel zu bewirken.
Musterschüler des IWF
Lettlands Mitte-Rechts-Regierung unter Dombrovski ist voll mit der Überwindung der Finanzkrise beschäftigt und hat bisher – im Unterschied zu Griechenland – alle Auflagen von Währungsfonds und EU ohne Murren erfüllt. Bereits ist der Tiefpunkt der Krise überwunden, und die Wirtschaft befindet sich wieder auf Wachstumskurs. Die empörenden politischen Verhältnisse hängen mit der noch nicht bewältigten Vergangenheit als Sowjetrepublik zusammen. Damals war ein Netz von Beziehungen für die Besetzung von guten Posten und die Beschaffung von Vorteilen für die Obererschicht (Nomenklatura) selbstverständlich. Die jetzt auf Drängen aus dem Westen geschaffenen Ämter für Korruptionsbekämpfung haben auch anderswo im Baltikum eine undankbare Aufgabe. Nirgends gibt es so viele Skandale und personelle Wechsel wie bei diesen Amtsstellen. Dies hängt nicht nur mit dem Eifer der oft unerfahrenen jungen Beamten zusammen, sondern ebenso sehr mit den raffinierten Behinderungsaktionen von Vertretern der ehemaligen Nomenklatura und speziell der mit allen Wassern gewaschenen „Oligarchen“.
Mit seiner Fernsehansprache appellierte Zatlers an die Gefühle der ökonomisch schlecht gestellten Bevölkerung, die unter Arbeitslosigkeit und einer bis zu 30-prozentigen Reduktion der Gehälter leidet. Er sagte, Lettland kämpfe nicht für die Sanierung seiner Finanzen, damit sich einige wenige Mitbürger bereichern könnten. Seine Abwahl dürfte für den ehemaligen Chirurgen keine Überraschung sein. Die Abstimmung über eine vorzeitige Auflösung des Parlamentes am 23. Juli hat gute Chancen. Offen bleibt allerdings, ob Zatlers sich dabei direkt engagiert – etwa mit der Gründung einer neuen Partei - und ob sich auf diese Weise ein neues Rechtsempfinden durchsetzen lässt.