Das Buch, von dem ich hier sprechen möchte, erschien erstmals 1961 unter dem Titel The Politics of Cultural Despair in den USA. Die deutsche Übersetzung, die wenig später herauskam, trug einen leicht abgewandelten, zugespitzteren Titel: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Verfasser war Fritz Stern, ein junger Historiker und Professor für Geschichte an der Columbia University New York.
Fritz Stern wurde 1926 in Breslau, dem heutigen Wroclaw, als Kind assimilierter jüdischer Eltern geboren. Er entstammte dem deutschen Bildungsbürgertum; sein Vater war Arzt, und auf den Regalen der elterlichen Bibliothek standen die deutschen Klassiker. Im Jahre 1938 gelang der Familie die Emigration nach den USA. Man liess sich in New York nieder, und dem Sohn fiel die kulturelle Integration leicht. Er durchlief mühelos die Schulen, wurde Historiker und begann sich eine Frage zu stellen, die ihn ein ganzes Leben lang nicht loslassen sollte: Wie konnte es geschehen, dass in einem zivilisierten Land, dessen Leistungen weltweit anerkannt und bewundert wurden, eine Figur wie Adolf Hitler zur Macht kommen und sich zwölf Jahre an der Macht behaupten konnte?
In seinem Buch zum Kulturpessimismus, seiner erweiterten Dis-sertation, stellte sich Stern diese Frage zum ersten Mal. Er befasst sich mit drei deutschen Intellektuellen, mit Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck, die zwischen 1850 und 1925 mit ihren kulturkritischen Schriften hervortraten. Heute sind diese Autoren nahezu vergessen; zu ihrer Zeit aber hatte ihre von Ressentiments und utopischen Zukunftsvisionen geprägte Kritik beachtlichen Erfolg.
In mancherlei Hinsicht waren die drei Autoren, deren Lebensge-schichte Fritz Stern skizziert, miteinander verwandt. Sie waren Aussenseiter und wollten dies sein; sie waren ehrgeizig, aber materiell anspruchslos; sie führten ein unstetes Leben und starben enttäuscht und einsam. Einig waren sie sich in der radikalen Ablehnung der herrschenden Gesellschaft und der Kultur, in der sie lebten. Der mächtige Industrialisierungs- und Modernisierungsprozess, der Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfasste, löste bei ihnen eine tiefe Verunsicherung aus. Die Entstehung der Grosstädte, der Wandel traditioneller Gesellschaftsstrukturen, die Anonymität und Mobilität der Massen, der technische Fortschritt – dies alles erschien ihnen als eine fatale Fehlentwicklung, die das Individuum zum Massenmenschen erniedrigte und seine geistigen und seelischen Werte einem blindwütigen Materialismus auslieferte.
Lagarde, Langbehn und Moeller und van den Bruck waren, jeder auf seine Weise, Idealisten; aber ihr Idealismus war weltfremd, ohne Bezug zu den Realitäten und ohne den pragmatischen Willen, Bestehendes zu verbessern. Es war eine rückwärts gewandte Weltanschauung, die sie vertraten, eine „konservative Revolution“, die weit hinter die geistigen Errungenschaften der Aufklärung zurückführte und sich dezidiert antiliberal gebärdete. Ihr Heil suchten die drei Kulturkritiker nicht in der Demokratie, die das freie Individuum an der Macht teilnehmen lässt, sondern in einem durch die Kraft des nationalen Mythus und der germanischen Rasse verbundenen Volksgemeinschaft, die sich gläubig dem Diktat eines charismatischen Führers unterwarf. Fritz Stern spricht von einer „völkischen Ideologie“ mit deutlich antisemitischem Einschlag, die in dieser Kulturkritik sichtbar wurde, lange bevor sie Hitler verordnete und von seinen Schergen praktizieren liess.
Zur Arbeit an seinem Buch reiste Fritz Stern, nun amerikani-scher Staatsbürger geworden, 1950 nach Deutschland, und in seinen Memoiren, die unter dem Titel Fünf Deutschland und ein Leben er-schienen sind, spricht er von der Beklemmung, die den „Heimkehrer“ erfasste und davon, dass er „auf vielleicht ganz harmlose Leute Nazigesichter projiziert habe“. Und dies ist wohl, scheint mir, das Erstaunlichste an diesem Erstlingswerk des jungen Historikers: Fritz Stern, den sein Schicksal nach Auschwitz hätte führen können, behandelt sein Thema mit aller gebotenen wissenschaftlichen Sachlichkeit, ohne Ressentiment, Anklage, pauschale Verallgemeinerung.
Nie verfällt er in den damals bei ausländischen Historikern häufigen Fehler, den Nationalsozialismus zwangsläufig aus der deutschen Mentalität oder dem deutschen Geschichtsverlauf erklären zu wollen. Immer bleibt er sich bewusst, dass die fatale Kulturkritik seiner drei „völkischen Ideologen“ nur einen kleinen Teil zur Erklärung der Katastrophe des „Dritten Reiches“ beitragen kann, die sich mit eindimensionalen Kausalzusammenhängen nicht erklären lässt.
Fritz Stern, heute der bekannteste deutsch-amerikanische Historiker, Reisender zwischen den Kontinenten, begehrter Gastreferent und Träger hoher Auszeichnungen, hat die Frage „Wie konnte es geschehen?“ auch in seinem späteren Werk immer wieder gestellt. In den vielen glänzenden Essays, die in deutscher Sprache in Sammelbänden unter den Titeln Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht, Verspielte Grösse und Das feine Schweigen vorliegen, ist diese Frage omnipräsent. Abschliessend beantwortet hat sie der Historiker nie, und sie lässt sich wohl nie ganz beantworten.
Wie sagte doch der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt in den Gesprächen, die er letztes Jahr mit Fritz Stern führte und die kürzlich im Druck erschienen sind: „Für mich ist das nach wie vor nicht zu erklären, was dieses Volk, dem ich angehöre, unter Hitler an Verbrechen zustande gebracht hat. Ich bin nach wie vor ratlos.“
Kulturpessimismus als politische Gefahr ist ein Buch, das sich noch heute mit Gewinn lesen lässt. Das Times Literary Supplement hat es zu den hundert einflussreichsten Büchern gezählt, die nach 1945 erschienen sind. Figuren wie Lagarde, Langbehn und Moeller van den Bruck sind zwar heute nicht in Sicht; aber die Gefahr des antiliberalen Konservativismus ist nie ganz gebannt.