Auf dem Marne-Kanal zum Rhein – bewegende Lektüre und bedrängende Gedanken über die Wirren der Geschichte. Haben wir nichts daraus gelernt?
Lothringen im Jahre 1635: In Europa tobt der dreissigjährige Krieg. Was als Kampf um den richtigen Glauben begann, Katholiken gegen Protestanten, wird bald zum sinnlosen Gemetzel zwischen damaligen Grossmächten und ihren Söldnerarmeen. Er bringt insbesondere der ohnehin schon armen Bauernschaft unendliches Leid, zerstört die lokalen wirtschaftlichen Strukturen und führt in den betroffenen Ländern zu Hunger und Armut. Und als ob das Elend nicht schon genügend gross wäre, zieht mit den marodierenden Soldaten die Pest übers Land.
Die Geschichte des Bauernsohns Jacob Aubertin
In den Hügeln zwischen der Moselle und dem Rhein, im Einzugsgebiet der Saar*, die je nach herrschender politischer Macht auch Sarre heisst, liegt das lothringische Städtchen Dieuze. Das Land ist karg und lässt den Bauern auch in guten Zeiten kaum genug zum Überleben. Im Winter friert und hungert man. Zum Glück wird in der Gegend, in kleinen künstlich angelegten Teichen, Salz gewonnen und in Moyenvic und Marsal für den Export auf der Moselle nach Metz, Trier und dem Rheinland verarbeitet. Das verbessert die schmale Basis der Landwirtschaft.
Doch dann erreicht der Krieg Lothringen. Der junge Bauernsohn Jacob Aubertin muss es erleben, wie seine Eltern und Geschwister von den Truppen des französischen Kaisers umgebracht werden. Er selber vermag zu fliehen, schlägt sich zu den schwedischen Truppen durch, welche als Protestanten auf der Gegenseite kämpfen, und wird als Söldner bald so rücksichtslos und roh über seine Gegner – ob Soldaten oder Zivilisten – herfallen, wie damals die Franzosen auf dem Hof seiner Eltern.
Jahre später setzt er sich von seinen Truppen ab und schlägt sich, als Deserteur geächtet und verfolgt, vom oberen Rheintal über die Vogesen nach Epinal ins Tal der Moselle und weiter nordwärts durch ein zerstörtes Land in seine alte Heimat durch. Er meint den Hof seiner Eltern gefunden zu haben. Auch dort herrschen der Hunger und die Pest. Er rächt sich an den vermeintlichen Widersachern und verschont nur ein junges Mädchen, mit dem er später eine Familie gründet.
Auswanderung in den Osten der Donaumonarchie
Doch auch das Ende des dreissigjährigen Krieges durch den westfälischen Frieden (1648) erlöst die Bauern nicht aus ihrer Armut. Mehr als hundert Jahre später, um die Zeit von 1770, erreicht die Gegend die Kunde, die Kaiserin Maria Theresia suche Menschen, welche bereit seien, sich im Osten der österreichische-ungarischen Monarchie, dem Banat, anzusiedeln, einem Gebiet um die Stadt Temeswar, wo es reichlich Land, aber zu wenig Menschen gäbe. Zusammen mit Gleichgesinnten macht sich Frédéric, ein Nachkomme von Jacob Aubertin, auf den Weg nach Ulm, wo sich Auswanderungswillige aus dem nördlichen und westlichen Europa versammeln, um auf der Donau ins Land der Verheissung zu fahren. Nach schwierigster Flussfahrt, die nicht alle Auswanderer überleben, erreichen die Siedler schliesslich das Banat, wo sie in einer gottverlassenen Gegend ein neues Leben beginnen, gleichsam aus dem Nichts neue Dörfer bauen und diese im Laufe der kommenden Jahren zu blühenden Gemeinwesen zu entwickeln.
Zwischen den Mühlsteinen der Geschichte
Die Schwabendörfer, wie man sie wegen des Einschiffungsortes Ulm bald nennt, werden zwar auch hier die Mühsal und den Hunger nicht los, doch überleben sie manche politischen Stürme, auch den Zusammenbruch von Österreich-Ungarn am Ende des ersten Weltkrieges und die Gründung des unabhängigen Staates Rumänien. Doch durch das dritte Reich geraten sie wieder zwischen die Mühlsteine der Geschichte. Zuerst macht man die „Schwaben“ zu strammen Anhängern des dritten Reiches. Alle Fremden, Zigeuner, Serben, Juden, werden getötet oder verjagt.
1945 schwappt mit dem Einmarsch der Russen die Welle zurück. Die Schwaben werden aus ihren Dörfern vertrieben, und mit ihnen verlieren sich die Spuren der letzten Nachkommen der Obertin, wie die lothringischen Aubertin jetzt heissen, in den Wirren der Geschichte.
„Jacob beschliesst zu lieben“
Es ist richtig: Wenn auch die geografischen und historischen Fakten stimmen, die Personen und ihre Geschichte sind erfunden, erfunden von Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timisoara (dem ehemaligen Temeswar), der heute in der Schweiz lebt. Sein Roman „Jacob beschliesst zu lieben“, welcher durch vier Jahrhunderte europäischer Geschichte führt, geht mit seiner grossartigen und schnörkellosen Schilderung von Gewalt, Elend, Hoffnung und Liebe unter die Haut.
Florescus Buch ist – aus Zufall oder aus unbewusster Voraussicht? – Teil unserer Bibliothek, die wir für unsere Schifffahrt von der Saône auf die Donau eingepackt haben. Es passt in mehrfacher Art zu dem, was wir in diesen Tagen erleben. Da wird – ganz banal – der Mensch des 21. Jahrhunderts am offenen Steuerstand seines Schiffes durch die bissige Kälte der letzten Tage mit der menschlichen Grunderfahrungen des Frierens konfrontiert – wie einst die lothringischen Bauern.
Allerdings – seien wir ehrlich – findet unsere Erfahrung nicht in der alternativlosen Unerbittlichkeit des 17. Jahrhunderts statt, sondern quasi unter kontrollierbaren Bedingungen, denn der Hobby-Schiffer kann sich abends nach getaner Schleusenarbeit in seine geheizte Kabine zurückziehen. Und auch der treue Begleiter des Frierens fehlt: Dank der Essensvorräte und einer ausgezeichneten Köchin kann an Bord unseres Schiffes, der Solveig VII, von Hunger nicht die Rede sein.
Flussfahrten – heute und vor 250 Jahren
Zweitens führt der Canal de la Marne au Rhin, auf dem wir in diesen Tagen von Nancy nach Strasbourg unterwegs sind, nahe an jenen lothringischen Orten vorbei, welche Florescu in seinem Roman beschreibt. Viele Dörfer tragen noch immer deutsche Namen (Mittersheim zum Beispiel) oder lassen den deutschen Ursprung erkennen (Grundviller), aber das Land ist auch heute noch einsam – von der neuen TGV-Linie und ein paar grösseren Strassen einmal abgesehen. Es wirkt ein bisschen verschlafen und lässt junge Menschen wohl immer noch von der fernen Welt träumen, vielleicht nicht gerade vom rumänischen Banat, aber doch wenigstens von Nancy, Metz oder Paris.
Immerhin: Die Apotheke in jedem Dorf, und sei das Dorf noch so klein und habe die letzte Boulangerie bereits vor Jahren verloren, und die neuen Einkaufszentren irgendwo auf der grünen Wiese lassen uns wissen: Vor Hunger und Pest muss sich hier niemand mehr fürchten.
Ich stelle mir bei der Fahrt über das weite Land vor, wie vor 250 Jahren die lothringischen Bauern sich auf den Weg nach Ulm gemacht haben, wie sie auf primitiven Flössen die Donau abwärts gefahren sind, vorbei an jenen tückischen Passagen, wo der Fluss wegen seinen unberechenbaren Wirbeln auch für den erfahrenen Schiffer eine reelle Gefahr bedeutete. Auch wir haben die Donau zum Ziel, doch wir werden erst in Kehlheim, wenig flussaufwärts von Regensburg, über den Main und den Main-Donau-Kanal – auf sie stossen. Florescus Auswanderer werden uns in Gedanken begleiten, speziell an jenen Stellen, wo Felsenriffe mitten im Fluss auch heute noch für die Schiffe heimtückisch sein können, geschweige denn für ein in der Strömung treibendes Floss.
Glaube an das Gute, Vernünftige?
Und schliesslich verweist Florescus Buch auf eine bedrückende Parallele zur Gegenwart, der wir uns nicht entziehen können. Einmal mehr werden in unserer Welt Kriege im Namen von Religionen geführt oder Religionen zur Tarnung des Ringens um Macht vorgeschoben. Als ob wir nichts aus der Geschichte gelernt hätten, werden wiederum tausende von Menschen aus ihren Städten und Dörfern vertrieben. Wie damals sind Menschen auf der Flucht, der Kälte, der Gewalt, dem Hunger und der Gleichgültigkeit ausgesetzt.
Es ist schwer, daran nicht zu verzweifeln, sondern – so wie am Ende von Florescus Buch – trotz aller Rückschläge den Glauben an das Gute und Vernünftige nicht zu verlieren. „Jacob beschliesst zu lieben“. Werden wir es auch beschliessen?
*Siehe Artikel des Autors im Journal21 vom 9.5.15 „Die Saar – die grosse Unbekannte“