Bei der Frage nach den Urhebern des Friedens in Europa, des einzigartigen Friedens, den wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 geniessen, spalten sich die Meinungen in zwei Lager. Proeuropäer rühmen die EU. Wenn das die mit der EU ewig Unzufriedenen hören, sagen sie Nein. Nach ihrer Ansicht hat die Nato den Ausbruch von Kriegen verhindert, jedenfalls mehr als die EU.
Der grosse Unterschied
Nato und EU haben grosse Verdienste für den Frieden in Europa. Aber die EU spielt historisch gesehen in einer höheren Liga. Es gibt einen grossen Unterschied: Die Nato hat die Länder Westeuropas militärisch gegen aussen verteidigt; die EU aber hat Kriege unter ihnen selber unmöglich gemacht. Die Nato reagierte auf die Bedrohung aus dem Osten, das war existentiell für Freiheit, Frieden und Demokratie in Westeuropa. Aber auch die EG/EU hat Europa vor Kriegen behütet. Nicht mit Soldaten, Panzern und atomaren Drohungen und nicht einmal vor akuter Kriegsgefahr. Sie hat Jahrhunderte einer unstillbaren Neigung der Länder und Völker zum Kriegführen aus den europäischen Köpfen getilgt. Diese historische Leistung will das norwegische Nobelkomitee ins Bewusstsein der Europäer zurückrufen, bevor sie endgültig vergessen geht. Und es ruft uns auf, diese Errungenschaft weiter zu pflegen.
Die Verdienste der Nato um den Frieden sollen keineswegs klein geredet werden. Mit ihrem militärischen Schutz vor Aggressionen aus der Sowjetunion hat sie der westlichen Hälfte Europas vierzig Jahre lang ermöglicht, sich in Freiheit und Demokratie zu organisieren. Sie tat dies von ihrer Gründung 1949 nach dem Ausbruch des Ost-West-Konflikts (des «Kalten Kriegs») bis zum Fall der Berliner Mauer 1989. Durch militärische Festigkeit und politische Klugheit hat die Nato unter amerikanischer Führung auch dazu beigetragen, dass das Sowjetreich zerfiel und der Kommunismus verschwand. Dann lud sie die der sowjetischen Herrschaft entronnenen «Satellitenländer» noch vor der EU zur Mitgliedschaft ein und öffnete ihnen die Tür zur Integration ins friedlich-demokratische Europa.
Die Nato gehört der Vergangenheit an
Doch damit war die Friedensrolle der Nato zu Ende. Nach der Beendigung des Kalten Kriegs ist sie in die Geschichte eingegangen, Vergangenheit geworden. Heute sucht sie ratlos nach einer neuen Rolle. Die 1952 gegründete EG/EU hingegen ist nicht überflüssig geworden. Auch noch in der Euro-Krise ist sie der supranationale Organismus, der die europäischen Länder zu friedlicher Zusammenarbeit zwingt. Mit der geschichtlichen Rolle der EU kann sich die Nato nicht messen. Die EG/EU hat Europa, wie es das Nobel-Komitee sagt, aus einem Kriegs- in einen Friedenskontinent verwandelt. Nachhaltiger als die Nato, nicht nur vierzig Jahre lang. 500 Millionen Europäer können heute keine Sekunde mehr an einen Krieg untereinander denken. Was für eine Umwälzung! Bis zur Gründung der EG 1952 war Europas Geschichte eine unaufhörliche Folge von Kriegen. Die EG/EU hat das umgepflügt.
Fünf Jahre nach Hitler...
Wie tat sie das? Mit einem revolutionären Konzept friedlicher Zusammenarbeit von Ländern, die sich fünf Jahre vorher am Ende des Kriegs gegen Hitler noch spinnefeind waren. Vom genialen politischen Denker und Pragmatiker Jean Monnet inspiriert, lud der französische Aussenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 in einer Ansprache, die als Beginn der EG-Geschichte betrachtet wird, alle europäischen Länder guten Willens zur Gründung einer Gemeinschaft ein, in der nicht gegeneinander gekämpft, sondern zum gemeinsamen Besten zusammengearbeitet werden solle. Dies vorerst nur auf zwei Wirtschaftssektoren: Kohle und Stahl sollten zu einem gemeinsamen Markt zusammengelegt und «supranational» geführt werden, das heisst von einer «Hohen Behörde», in welche die grossen Länder je zwei und die kleinen je einen «Kommissar» entsandten. Diese hatten von ihren Herkunftsländern so unabhängig zu sein, wie wir es von einem neugewählten Bundesrat gegenüber seiner Partei erwarten.
Die zwei Branchen hatte Monnet nicht zufällig gewählt: Ohne nationale Kontrolle über Kohle und Stahl konnte kein Land mehr Krieg führen, und auch die Beschränkung auf nur zwei Wirtschaftssektoren war ein Meisterstreich: Die Teilnehmer konnten sie als Test betrachten, von dem man sich später wieder zurückziehen konnte. Schumans Ruf folgten 1952 zunächst nur sechs Länder, allerdings nicht die mindesten: Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Belgien, Luxemburg – Todfeinde von 1939 bis 1945.
Von sechs zu 27
Der Test supranationaler Zusammenarbeit bei Kohle und Stahl war so erfolgreich, dass die Sechs 1958 die EWG gründeten, die «Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft», die gleich sämtliche Wirtschaftssektoren zu einem gemeinsamen Markt verschmolz. Dieser wuchs sich in fünfzig Jahren zu einem noch viel grösseren Gebilde aus: Es entstand der «Binnenmarkt» mit seinen technischen Harmonisierungen, mit vielen Begleit- und Sektorpolitiken, der Agrarunion, dem Kartellverbot, den Regional-, Handels-, Umwelt- und noch vielen anderen Regelungen, beispielsweise für Personenverkehr ohne Grenzen... und zum gar nicht krönenden Abschluss die dilettantisch angepackte Währungsunion, deren Krise heute einen Schatten auf die ganze EU wirft. Aus den ersten sechs sind heute 27 Mitgliedländer geworden, denen sich vor allem aus dem Balkan noch etwa zehn weitere anschliessen wollen.
Ameisenarbeit
Für diesen EG-Aufbau war sechzig Jahre lang eine immense tägliche Ameisenarbeit in hunderten von Büros und Sitzungszimmern nötig: politisch, ökonomisch, rechtlich, institutionell, bürokratisch – eine Unmenge von Treffen, Diskussionen und Verhandlungen. Nationale Politiker, Minister, ihre Mitarbeiter, ihre ganzen Ministerien, Professoren und Experten, aber auch die EU-Parlamentarier und ihre Büros, nicht zu vergessen die Lobbyisten: Zehn- oder wohl Hunderttausende haben in diesen sechzig Jahren über EU-Verträge verhandelt, nationale Kompetenzen abgetreten, um die Bewahrung nationaler Interessen, um Gesetze und Verordnungen gekämpft, Richtlinien entworfen, europäische Harmonisierungen akzeptiert und zum Zustandekommen unzähliger Kompromisse Konzessionen gemacht.
Kein Diktat von oben
Drei geniale Ideen Jean Monnets haben diesem EG-Konzept zum europaweiten Erfolg verholfen: Keine grossspurigen Deklarationen zur Einigung Europas, sondern kleine pragmatische Harmonisierungsschritte, die den auf ihre Autonomie stolzen Ländern gerade noch zumutbar waren; die Einsicht jedes Landes, dass es viel mehr vom gemeinsamen Wirtschaftsaufschwung profitiert als von einem Alleingang; und das wichtigste: das jahrelange gemeinsame Suchen nach den Mechanismen und Regeln solcher Vergemeinschaftung. Denn das wurde nicht von oben her diktiert, sondern den Mitgliedländern als Ziel vorgegeben, das sie miteinander in den EG-Institutionen erarbeiten sollten. Das führte zum harten, aber gewaltlosen, oft jahrelangen Feilschen um Lösungen, die für alle akzeptabel sind. Jeden Tag finden in Brüssel an die hundert derartige Sitzungen statt. Dieses gemeinsame Hirnen von nationalen Repräsentanten über viele Beamtengenerationen hinweg, nicht zu vergessen das lockere Beieinandersein beim Pausenkaffee und am gemeinsamen Mittagessen, hat unter zehntausenden von Verantwortungsträgern eine Nähe und ein europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl geschaffen, das Lichtjahre entfernt ist von der nationalistischen Ideenwelt, die in Europa während tausend Jahren zu immer neuen Kriegen führte.
500 Millionen fühlen sich zusammengehörig
Doch wie wurde dieses Zusammengehörigkeitsgefühl vom Niveau der Eurokraten in die Köpfe von 500 Millionen Bürgern Europas übertragen? – Dank den Resultaten, die diese Eurokraten erreichten. Der Wirtschaftsaufschwung ab 1950 war enorm. Alle verstanden, dass er nur der Schaffung gemeinsamer Märkte durch übernationale Zusammenarbeit zu verdanken war, und sie lernten zu akzeptieren, dass dafür auch ein Preis gezahlt werden musste: Verzicht auf nationale Sonderzüglein und individuelle Privilegien, Hinnahme von übergeordneten (aber von ihrer Regierung mit ausgehandelten) Brüsseler Regeln. Niemand möchte heute auf diesen Wirtschaftsaufschwung, auf den Binnenmarkt, auf die Reisefreiheit ohne Grenzen und bei aller Kritik nicht einmal auf den Euro verzichten, der beim Grenzübertritt im Portemonnaie sieben verschiedenen Währungen ersetzt. Und allen ist heute bewusst oder ohne weitere Überlegung klar, dass dies alles der Zusammengehörigkeit im EU-Verbund zu danken ist.
Angesichts dieser historischen Leistungen darf man sagen: Die EU hat den Friedenspreis verdient.