Dramaturgisch ist es keine anhaltend gute Lösung, aus Vorsichtsgründen auf die Liebespassion zu verzichten, um die Freundschaft zu schonen und zu retten. Irgendwann und irgendwie bricht sich die Leidenschaft bei Menschen freie Bahn. Kennen wir nicht alle aus unserer Jugend die unselige Geschichte jener Liebe zu dritt namens «Jules et Jim», die Truffaut 1962 so unvergleichlich auf die Leinwand gebracht hat?
Exotisches Flair
Im 19. Jahrhundert werden die Konflikte zwischen Freunden, die dieselbe Frau lieben, gern ins Exotische verlagert, obwohl auch bei uns, zum Beispiel in Paris, es von Tragödien und «menschlichen Komödien» solcher Gestalt nur so wimmelt. Im April 1863 vergibt der Direktor des Théâtre Lyrique (Châtelet)Léon Carvalho dem 25jährigen hoch begabten Gewinner des Rom-Preises Georges Bizet den Auftrag für eine dreiaktige Oper, welche der Musiker – teilweise von ihm früher komponierte Werke verwendend – auch prompt im Herbst dieses Jahres ihm liefert.
Das Libretto der beiden Herren Cormon und Carré basierte auf einem geographischen Entdeckungsbericht auf der Insel Ceylon (Sri Lanka). Zuerst sollte die Oper nach der weiblichen Hauptfigur «Leila» heissen und auch gesprochene Dialoge enthalten. Darauf verzichtete man dann im Verlauf der Proben und nannte die Oper schliesslich «Les pêcheurs de perles – Die Perlenfischer». Neben dem Thema der Liebeskonkurrenz zwischen dem Inselhäuptling Zurga und seinem unwiderstehlich verliebten Freund Nadir war noch ein zweites Thema modisch im Schwang: Die Lebenslüge einer Priesterin, die schwört, jungfräulich zu leben und dann doch dem insistierenden Liebhaber widerstandslos erliegt. Zwei berühmte Priesterinnen der Opernwelt, «Die Vestalin» und «Norma», denen ganz Vergleichbares zustösst, lassen grüssen!
Liederliche Nachwelt
Das Publikum liebte die neue Oper, die Musikkritik – mit Ausnahme von Berlioz – mäkelte arrogant am Werk herum. Nach 18 Aufführungen verschwand das Stück von der Bühne. Als man nach Bizets Tod (1875) und nach dem triumphalen Aufstieg seiner «Carmen» es wieder auf die Bühne holte, waren die Orchesternoten nicht mehr auffindbar. Man rekonstruierte nach Gutdünken – immer eine heikle Geschichte – und griff in die Intentionen von Bizet hinein, strich originale Musik, veränderte den Schluss beispielsweise mit Musik von Godard: ein Flickwerk also durch und durch. Erst 1973 wurde die Originalfassung nach dem aufgetauchten Klavierauszug von Choudens wieder rekonstruiert. Es gibt inzwischen Einspielungen der Oper, die den ursprünglichen Intentionen Bizet gerecht zu werden suchen. Die verschwundene Originalpartitur bleibt ein Schandfleck für die Sorgfaltspflicht auch grosser Opernhäuser im Umgang mit Meisterwerken.
Denn in diesem Werk suchen nicht nur Fischer in den gefährlichen Tiefen des Ozeans unter dem Schutz der Götter nach Perlen. Hier reiht ein begnadeter Musiker schönste musikalische Einfälle Perle um Perle zur leuchtenden Kette aneinander. Neben Chören der rhythmisch überraschenden und wilden Art bietet Bizet die schönsten Arien und Duette auf, so raffiniert instrumentiert, wie man es nicht einmal von Berlioz erwarten würde. Auch die motivische Arbeit ist durch das ganze Werk hindurch entwickelt. Wie ein schöner Erinnerungsstrang zieht sich das Liebesthema der Priesterin von Akt zu Akt. Von der intuitiven thematischen Kompositionskunst des jungen Bizet kann man nicht anders als immer wieder verwundert und begeistert sein.
Ein wichtiges Requisit dieser Oper – wie bereits bei Bellinis «Norma» - ist der Schleier der Priesterin, hinter welchem sie ihre Intentionen, ihre Liebe, ihre Schuld und ihre Scham über den Treuebruch der Gottheit und der Gemeinschaft der Perlenfischer gegenüber verbirgt. An dramatischer Zuspitzung erfährt die Oper vieles vor allem durch die Figur des Zurga, des Häuptlings der Perlenfischer, der den inneren Kampf zwischen Eifersucht und Rachgier einerseits, Freundschaft und Zuneigung andererseits immer wieder auszutragen hat.
Zurga ist es dann auch, der im 3. Akt die Siedlung der Perlenfischer in Brand versetzt, um den gefesselten und zum Tode verurteilten Liebenden Nadir und Leila zur Flucht zur verhelfen. Für das Ende der Oper gibt es aufgrund der Quellenlage und der Rezeptionsgeschichte zwei Varianten: In der einen wird Zurga wegen seiner Brandstiftung und seiner Freilassung einer schuldigen Priesterin von einem der Perlenfischer niedergestochen und vom Oberpriester zum Scheiterhaufen bestimmt. In der Ursprungsfassung bleibt Zurga, nachdem er den Liebenden zur Flucht verhalf, allein auf der Bühne zurück und sieht trotzig und gefasst seinem Schicksal entgegen. Nicht jeder erfährt das Glück der Liebe. Aber die Treue der Freundschaft kann jeder halten!
Das Freundschaftsduett
An berühmt gewordenen «Einzelnummern» fehlt es dieser Oper gewiss nicht. Zu ihnen gehört sicher die Romanze des Nadir aus dem 1. Akt, denn jeder Tenor von Rang und Namen hat sie irgendwann gesungen und eingespielt. Über 150 Aufnahmen soll es davon geben. Ein Hit der Wunschkonzerte von Opernfans ist auch die Cavatine der Leila aus dem 2. Akt, in welchem sie besingt, dass nur die Liebe dem Herzen Frieden und Glück bescheren kann. Berührend im Baritonregister ist ebenso die Arie des Zurga im 3. Akt, in der er Nadir und Leila um Verzeihung bittet für seinen Zorn und seine Rachegefühle: die beiden mögen doch mit den Qualen eines irritierten Herzens Nachsicht haben. Auch die Chöre, ob begeisternd zustimmend oder entsetzt das ihnen Zugemutete ablehnend, gehören zu den eindrücklichen und grossen Momenten dieser Oper.
Das Freundschaftsduett aus dem 1. Akt zählt freilich zu den bekanntesten der französischen Operngeschichte überhaupt. Historisch bewusste und verantwortliche Dirigenten wie Michel Plasson und sein Ensemble vom Capitole de Toulouse haben das Duett zwischen dem Tenor Nadir und dem Bariton Zurga sogar in den beiden heute gebräuchlichen Fassungen eingespielt. Das Duett ist in der Tat so etwas wie der Angelpunkt der gesamten Oper.
Hier leuchtet zum ersten Mal das Entscheidende dieser Oper auf: die durch die Leidenschaft der Liebe der Freundschaft drohende Gefahr. «Au fond du temple saint – im Hintergrund des heiligen Tempels» - so beginnt Nadir seine Erzählung, wie eine Frau im Brahma-Tempel mit Blumen und Gold geschmückt sichtbar wird, eine geradezu göttliche Erscheinung. Die Menge scheint sie jedenfalls für eine Gottheit zu halten, denn wenn sie den Schleier hebt, sinken die Menschen auf die Knie.
Beide Männer erblicken. Und was geschieht? «De nos cœurs l’amour s’empare / Et nous change en ennemis.” Beide erfasst ein Gefühl der Liebe, und sogleich werden Freunde zu Feinden. Das ist der Augenblick, in dem sie einander schwören, Freunde bleiben zu wollen. Die göttlich scheinende Schönheit, auf welche beide verzichten wollen, soll das Pfand ihrer Freundschaft werden und sein.
Wir wissen, dass es anders kommen wird. Und ahnen es schon, wenn wir im Duett die zauberhaften Begleittöne von Flöte und Harfe hören, die nicht von dieser Welt scheinen. Die glühenden Bekenntnisse zweier vor Leidenschaft zitternder Männer sind zwar lebensecht, aber dem Sturm der Gefühle und den Erfordernissen von Leib und Blut bleiben sie längerfristig nicht gewachsen. Nadir wird sich bald von seinem Freund trennen und auf Abenteuersuche nach der einmal erblickten und nicht mehr zu vergessenden Leila machen.
Wir hören hier eine legendäre Aufnahme mit dem Tenor Jussi Björling und dem Bariton Robert Merrill. Nicht wenigen Opernfreunden weltweit gilt sie als unübertroffen.