Eine Eintragung bei Facebook lautete vor wenigen Tagen so: „Nun nehmt den Leuten doch nicht auch noch ihre letzte Freude!“. Was sich auf den ersten Blick wie ein mahnender Appell liest, war in Wirklichkeit ganz sicher ironisch, satirisch, vielleicht sogar sarkastisch gemeint. Denn der Satz stand inmitten einer dieser ungezählten, schier nicht enden wollenden „Diskussions“-Ketten im Zusammenhang mit dem „Corona“-Virus und den regierungsamtlich dagegen verhängten Massnahmen.
Alle Teilnehmer an besagter Online-„Aussprache“ führten – mehr oder weniger drastisch oder emotional – bewegte Klage über persönliche Einschränkungen, wirkliches oder gefühltes behördliches Versagen, auch nachvollziehbare persönliche und familiäre Probleme oder gar existenzielle Nöte. Bis auf den einen. Dieser widersprach im Übrigen den Leidens-Litaneien gar nicht, sondern versuchte nur, tatsächlich problematische Dinge von blossen Unannehmlichkeiten zu trennen. Mit anderen Worten, nachvollziehbare Kritik und berechtigte Sorge von simpler Motzerei und schreierischer Besserwisserei zu unterscheiden und in ein vernünftiges Verhältnis zueinander zu setzen. Oder kurz, dieser seltsamen, aber offenkundigen Freude am Unglücklichsein etwas entgegenzusetzen.
Warten auf das Kneipensterben
Natürlich liess das Echo nicht lange auf sich warten. Und das lautete – nicht überraschend – zu circa 95 Prozent: Schimpf und Schande über den Relativierer. Das Online-„Volk“ liess sich doch seine „letzte“, verbliebene „Freude“ nicht einfach nehmen. Nun wird kein vernünftiger Mensch versuchen, die Corona-Pandemie und deren Folgen für den Einzelnen, die Gesellschaft, die Volksgesundheit und das nationale wie grenzübergreifende Wirtschaftsleben schönzureden. Schliesslich vermag heute immer noch niemand auch nur einigermassen seriös vorauszusagen, wie viele Betriebe – grosse, mittlere, kleine, dazu Kneipen und Restaurants – auf der Strecke geblieben sein werden, sollte eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages mit genügend wirkungsmächtigen Impfstoffen das Corona-Virus im Prinzip überwunden sein. Und hoffentlich haben auch jene Optimisten recht, die glauben, dass die seelischen Belastungen des Ein- und Weggesperrtseins sowie das Fehlen von Freunden und richtigem Schulunterricht vor allem bei jungen Menschen keine bleibenden Schäden hinterlassen.
Objektiv gesehen, und vor allem im Vergleich mit vielen (ja, eigentlich mit den meisten) Ländern um uns herum und, darüber hinaus, auf dem gesamten Globus sind Deutschland und seine Bürger bislang noch relativ gut durch die Corona-Krise gekommen. Aber in der Selbstwahrnehmung sieht ein Grossteil der Menschen zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz sich und die allgemeine Lage ungleich düsterer. Zumindest sind es jene Teile der Gesellschaft, die sich in den Medien zu Wort melden und zuvorderst natürlich in den Spalten von Facebook, Twitter und Vergleichbarem austoben. Noch einmal: Die Situation ist ernst. Mehr als 50’000 Tote durch das oder in Verbindung mit dem Virus allein in Deutschland – die Zahl raubt einem schier den Atem. Und ja, man mag eigentlich wirklich nicht glauben, dass es – ungeachtet monatelanger Vorarbeit – in einem so hochindustrialisierten, durch und durch organisierten Land wie dem unsrigen technisch nur schwer möglich sein soll, Impftermine für seine Bürger zu vergeben.
Das Wunder mit dem Impfstoff
Trotzdem – es schadet nicht, zumindest einen Augenblick innezuhalten, die Dinge zu sortieren und einzuordnen. Das hat nichts mit Verharmlosen oder gar Verniedlichen zu tun. Im Gegenteil! Erinnert sich noch jemand an die Situation vor einem Jahr? Als ein bis dahin unbekanntes Virus mit dem niedlichen Namen Corona – also „Krönchen“ – geradezu in einem Wahnsinnstempo über den gesamten Erdball fegte? Ausgehend von China, aber verbreitet als Beiprodukt einer sich global total vernetzten Wirtschaftswelt. Abstand! Stillstand! Quarantäne! So hiessen damals die „Gegenmittel“. Wenigstens so lange, bis die einzig denkbare Rettung gefunden sein würde: ein wirksamer Impfstoff. Aber bis zu dessen serienreifer Entwicklung und gefahrloser Anwendung, sagten alle Experten, werde Zeit vergehen. Nach allen Erfahrungen wenigstens fünf, vielleicht sogar zehn Jahre!
Tatsächlich hat es nur ein Jahr gedauert. Wer die Normalität wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und auch politischer Abläufe kennt, wer um nationale Eitelkeiten und knallharte Konkurrenzkämpfe weiss – wer auch nur den Hauch einer Ahnung von den „üblichen“ Vorgängen auf und hinter den Bühnen des Tagesgeschäfts hat, der kann eigentlich bloss von einem Wunder sprechen. Ja, natürlich wurde unglaublich viel Geld in die pharmazeutische Industrie gepumpt. Aber noch wichtiger war, dass private wie staatliche Laboratorien, grenzübergreifend agierende Konzerne wie hoch effiziente mittelständische Denkfabriken Erkenntnisse und Zwischenergebnisse ausgetauscht haben. Wird dieses Wunder in der öffentlichen Diskussion gewürdigt? Wenigstens hier und da einmal erwähnt? Fehlanzeige!
Der Wut-Kropf in den Motz-Topf
Im Gegenteil, die Schlagzeilen der Gazetten, die Hauptnachrichten der Radio- und TV-Sender und – natürlich – nicht zuletzt die (un)sozialen Medien überschlagen sich geradezu lustvoll in der Aufzählung all dessen, was im Moment angeblich oder auch tatsächlich nicht funktioniert, was ungerecht ist oder erscheint, vor allem von seiten „der Politik“ gewollt oder aber wegen deren Unfähigkeit („man kennt das ja: von nix ’ne Ahnung, aber sich Geld in die Taschen scheffeln“) falsch gemacht oder gar in den Sand gesetzt wird. Dass sich dabei nicht selten Dinge in ihrer Logik total widersprechen, ja folgerichtig geradezu ineinander verknoten – was tut’s? Hauptsache, der Wutbürger konnte seinen Kropf wieder einmal in den digital-medialen Topf leeren.
Da ist zum Beispiel die Sache mit den Impferfolgen in Israel, Grossbritannien und den USA. In der Tat ist man (nach ursprünglich monatelangem Corona-Desaster, verursacht durch Premier Boris Johnson und Präsident Donald Trump, in den drei Ländern inzwischen zügig vorangekommen. Der Grund: Hier wie dort erhielten die mittlerweile vorliegenden Impfstoffe bereits nach zunächst nur oberflächlicher Prüfung so genannte Notzulassungen. Für die Europäische Union zählte, hingegen, die Wertung der eigens dafür geschaffenen Agentur in den Niederlanden. Das dauerte ein paar wenige Wochen länger, war allerdings sehr viel gründlicher. Das sei egal? Nur die Geschwindigkeit zähle? Dass derartige Einwände ausgerechnet in Deutschland laut werden, kann eigentlich nur als Witz verbucht werden. Ausgerechnet hier, wo noch immer eine nicht unerhebliche Zahl von Skeptikern ihren Vorbehalt gegen eine Impfung mit dem Hinweis auf die ausstehende Langzeit-Erfahrung mit dem Serum begründet …
Weitergabe von Patientenakten
Es sei schon beeindruckend, loben viele mit Blick auf Israel, wie sich das kleine Land sehr frühzeitig in Verhandlungen mit den Impfstoff-Produzenten grosse Mengen des Serums gesichert und dabei halt auch nicht so geknausert habe wie die Brüsseler Behörde. Das ist richtig – und dennoch nur zur Hälfte wahr. Denn die Vorzugsbehandlung Israels hängt auch (und zwar ganz wesentlich) damit zusammen, dass die dortigen Gesundheitsbehörden (wenn auch anonymisiert) Gesundheitsakten den Serum-Herstellern zur Auswertung übermitteln. Mag sich jemand den Aufschrei, die Rebellion, vielleicht sogar Revolution in deutschen Landen vorstellen, wo die Sorge um den Datenschutz ja schon die Anti-Corona-App praktisch wirkungslos hat werden lassen? Wo 1983 eine halbe Million Menschen auf dem Bonner Hofgarten schreckensbleich „totaler Überwachungsstaat“ und „gläserner Staat“ skandierte, als die damalige Bundesregierung versuchte, mithilfe von Fragebögen den seinerzeitigen Stand der Heiztechnik in Deutschland herauszufinden.
Es geht um Verhaltensgrenzen
Es wären mit Sicherheit dieselben politischen Kräfte und gesellschaftlichen Gruppen (die „klassischen“ Medien nicht ausgenommen), die dann ihre Kritik, Empörung und Sorge genauso schonungslos in die Welt trügen, wie sie das heute entrüstet und erregt mit Verweis auf Fehler und tatsächliches bis vermeintliches Versagen tun. Das ist, im Prinzip, ja auch richtig in einer pluralistischen Öffentlichkeit, die von Rede und Gegenrede, Argument und Gegenargument, Vorschlag und Gegenvorschlag nicht nur lebt, sondern durchaus Kraft zieht. Es geht allerdings um die Grenzen. Es geht um die Frage, wo denn beim Austausch der Meinungen häufig der gegenseitige Respekt geblieben ist, ohne den ein vernünftiges Miteinander nicht möglich ist. Und es geht um die Frage, ob die Gesellschaft in unserem Land die offensichtliche Lust am Motzen, Mosern, Schimpfen und Anprangern höher bewertet als ein gedeihliches Zusammenleben.
PS: Diese Frage wird sich umso dringlicher nach dem 26. September stellen. Dann nämlich ist Bundestagswahl. Und zu der tritt Angela Merkel bekanntlich nicht mehr an – sie, die von vielen praktisch für alles (vor allem Übel) verantwortlich gemachte Langzeit-Kanzlerin. Sie stellt für nicht wenige im Lande geradezu eine Hassfigur dar. Wohin und auf wen wohl werden deren Pfeile dann gerichtet?