Das Klimaseniorinnen-Urteil des EGMR hat einen Aufschrei ausgelöst: Die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention wird verlangt, was den Austritt aus dem Europarat bedeutet. Zudem versuchen Warnrufe gegen den EuGH in Luxemburg, die Bilateralen III zu verhindern.
Da lohnt sich ein kleiner Rückblick darauf, wie alles angefangen hat, als die Europäische Menschenrechtskonvention im November 1974 endlich auch für die Schweiz in Kraft trat. Bekanntlich wollte sie der Bundesrat früher ratifizieren, mit einem Vorbehalt wegen des fehlenden Frauenwahlrechtes, aber da machten ihm die Frauen mit ihrem Marsch auf Bern einen Strich durch die Rechnung. 1971 kam die Sache auf Bundesebene in Ordnung, und so wurde die Ratifikation ohne diesen Vorbehalt möglich. Was damals wenige realisierten, war der dadurch erfolgende Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit.
Fehlendes Bundesverfassungsgericht in der Schweiz
Nach wie vor darf das Bundesgericht Bundesgesetze und andere Erlasse des Bundesparlamentes nicht auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung überprüfen. Unsere 1848 geschaffene älteste Republik in Europa hat so starke Wurzeln in den Ideen der Französischen Revolution, dass anfänglich ein eigenständiges und unabhängiges Gericht auf Bundesebene schon gar nicht in Frage kam: «… grosse Richtermacht galt im republikanischen Frankreich wie auch in der Schweiz als ‘monarchistisch’ und war damit suspekt.»
Erst 1874 wurde ein ständiges Bundesgericht mit vollamtlichen Richtern geschaffen, aber sofort die heute noch geltende Einschränkung festgehalten. Wozu dann die neue Möglichkeit der staatsrechtlichen Beschwerde an dieses Gericht? «... vorwiegend um den konservativen Kantonen die individuelle Freiheit, die Gleichheit und das individualistische Demokratieverständnis einzupflanzen und in den Liberalen diese Werte zu festigen». *) Aha, so war das also damals mit den neuen Richtern in Lausanne; darauf ist am Schluss nochmals zurückzukommen. Aber die Einschränkung wurde beibehalten. Sie hat auch die Totalrevision der Bundesverfassung zur Jahrtausendwende überlebt.
Genau hundert Jahre danach verlangte nun die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ein innerstaatliches Beschwerderecht gegen Verletzungen der durch die EMRK garantierten Rechte, die grosse Schnittmengen mit den Grundrechten der Bundesverfassung aufweisen. Langsam aber sicher kam nun Bewegung in die Geschichte der Überprüfung von Rechtsverletzungen. Das Bundesgericht entwickelte eine umfangreiche Praxis der EMRK-konformen Auslegung auch der Bundesgesetzgebung. Dennoch hiess das Gericht in Strassburg Beschwerden gegen die Schweiz gut, was jedes Mal Protest gegen diese «fremden Richter» auslöste, obschon dem Gericht auch ein schweizerischer Richter oder eine schweizerische Richterin angehört.
Durcheinander beim Protest gegen «fremde Richter»
Inzwischen hat der Protest gegen «fremde Richter» Karriere gemacht und richtet sich in den letzten Jahren vor allem gegen den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, das oberste Gericht der Europäischen Union. Der Aufschrei gegen das Klimaseniorinnen-Urteil wird sich nun vermischen mit dem Aufschrei gegen die Zuständigkeit des EuGH zur Auslegung von EU-Recht, wie es die Europäische Union bei der Aushandlung der Bilateralen III mit der Schweiz verlangt. Da wird notgedrungen einiges durcheinandergeraten. Dass im Richtergremium des EGMR auch die Schweiz vertreten ist, in jenem des EuGH hingegen nicht, ist nur eine äusserliche Differenz. Eigentlich überflüssig die Nebenbemerkung, dass die Schweiz auch im EuGH Einsitz nehmen könnte, falls sie sich endlich entschliessen könnte, der EU beizutreten. Aber von Zeit zu Zeit müssen auch so lapidare Dinge wieder einmal erwähnt werden.
Durcheinandergeraten werden im Aufschrei gegen die sogenannten «fremden Richter» aber vor allem zwei verschiedene Kategorien des Rechts, nämlich einerseits das Völkerrecht und andererseits das Europarecht. Die EMRK und der EGMR basieren auf Völkerrecht, also auf dem Recht, das die Regierungen gleichberechtigter Staaten miteinander abgeschlossen haben. Nationale Parlamente sind nur insofern beteiligt, als sie das fertige Produkt ratifizieren müssen, was in der Schweiz für die EMRK am 3. Oktober 1974 geschah.
Europarecht hingegen verfügt schon bei seinem Entstehen über eine demokratische Legitimation und unterscheidet sich damit vom Völkerrecht. Diese demokratische Legitimation leitet sich aus zwei Quellen ab: einerseits aus dem direkt gewählten Europäischen Parlament und andererseits aus dem Rat der Fachminister, dem je ein Minister oder eine Ministerin aus jedem Mitgliedstaat angehört. Es gibt kein Europarecht, dem nicht diese beiden Gremien zugestimmt haben.
EU-Demokratie unter dem Europarecht
Wollte man diese Konstruktion in einem Gedankenspiel auf die Schweiz übertragen, so würde darin die Konferenz der Kantonsregierungen (KDK) zum Zuge kommen. Neuen Gesetzen müsste einerseits der direkt gewählte Nationalrat zustimmen, andererseits je nach Fachgebiet die entsprechende Fachkonferenz der KDK. In Energiefragen also zum Beispiel der Nationalrat und die Konferenz der kantonalen Energiedirektoren. Oder in Finanzfragen der Nationalrat und die Konferenz der kantonalen Finanzdirektorinnen und Finanzdirektoren. Auch diese Konferenzen verfügen über eine demokratische Legitimation, denn ihre Mitglieder sind in den Kantonen direkt gewählt worden.
In der EU heissen diese beiden Konferenzen etwas anders, nämlich «Rat (Verkehr, Telekommunikation und Energie)» oder «Rat (Wirtschaft und Finanzen)». Und ein weiterer Unterschied zur KDK besteht natürlich darin, dass die Mitglieder dieser Fachministerräte in den EU-Mitgliedstaaten nicht direkt gewählt sind, sondern die Regierungschefs werden in den meisten Mitgliedstaaten von den Parlamenten ernannt und stellen danach ihre Regierungscrew zusammen. Das ändert aber nichts an ihrer demokratischen Legitimation, die auf die Wahl der nationalen Parlamente zurückgeht.
Wie gesagt ist eine solche Übertragung auf die Schweiz reine Gedankenspielerei – illustrativ ist sie dennoch, denn sie zeigt den Unterschied zwischen Völkerrecht und Europarecht. Völkerrecht ist eine Angelegenheit von Regierungen, während Europarecht zur Legitimation durch die Regierungen als zweiten und gleichwertigen Legitimationsstrang die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger einbezieht, indem diese direkt das Europäische Parlament wählen, ohne dessen Zustimmung kein Recht entstehen kann.
Deshalb funktioniert Gewaltenteilung in der EU anders als in traditionellen Nationalstaaten. Der Ministerrat in seinen verschiedenen Zusammensetzungen hat legislative und exekutive Funktionen. Kommt hinzu, dass die Europäische Kommission in vielen Bereichen den Vollzug von EU-Recht den Mitgliedstaaten überlässt, denn über einen eigenen Vollzugsapparat mit Polizei und sonstiger Vollstreckungsgewalt verfügt sie bekanntlich nicht. Dieses System würde ohne den EuGH nicht funktionieren; dieser ist notwendig, da er für die einheitliche Auslegung des EU-Rechts in allen Mitgliedstaaten sorgt.
Und damit sind wir wieder beim Aufschrei gegen die «fremden Richter». Was den EuGH anbelangt, ist die Aufregung schlichtweg widersinnig. Wer sich am Binnenmarkt beteiligt, und sei es auch nur partiell, will EU-Recht in Anspruch nehmen. Und dieses Europarecht ist ohne die letztinstanzliche Auslegung durch den EuGH nicht zu haben, weil es sonst gar nicht funktionieren könnte.
Wer nichts mit dem EuGH zu tun haben will, kann sich am Binnenmarkt nicht beteiligen. Grossbritannien hat diesen Weg gewählt, da gibt es nun im Grundsatz nur noch Völkerrecht und kein Europarecht mehr. Und dazu nochmals ein kleiner Seitenblick auf das vorher angestellte Gedankenspiel: Übertragen auf die Schweiz und das Verhältnis zwischen den Kantonen und dem Bund würden Verträge «à la Völkerrecht» nur zwischen den Kantonsregierungen ausgehandelt, und das Resultat müsste nur von den beteiligten Kantonsparlamenten genehmigt werden.
Keine Rechtsordnung ohne Justiz
Aber auch mit dem EGMR ist es nicht so einfach. Längst haben sich die Rechtsprechungen von EuGH und EGMR miteinander verschränkt, indem sich der EuGH auch an den Urteilen des EGMR orientiert und umgekehrt. Die beiden Gerichte befinden sich in einem fruchtbaren informellen Dialog. Deshalb gibt es ohne die Anerkennung des EGMR auch keine Beteiligung am EU-Binnenmarkt. Um so erstaunlicher, dass sich Kräfte aus der sogenannten Mitte des Parteienspektrums der Schweiz am Aufschrei gegen den EGMR beteiligen, Kräfte, die bisher immer noch vermuten liessen, sie würden eine Einigung der Schweiz mit der EU zur Weiterführung dieser Beteiligung befürworten.
Jedes Recht wird von den zuständigen Organen erlassen und danach von Verwaltungsbehörden angewendet. Daraus hervorgehende Streitigkeiten kommen vor Gerichte, so auch Streitigkeiten aus Verträgen zwischen Privaten oder die Beurteilung von Straftaten. Jede heutige Rechtsordnung braucht und hat eine Justiz. Und wer einer Rechtsordnung untersteht oder an ihr teilnehmen will, braucht auch die entsprechende Justiz, die dazugehört und nie «fremd» ist.
Auch in unserer ältesten Republik in Europa ist das heute so. Am 19. Juli 2019 hat das Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde teilweise gutgeheissen und entschieden, die Wahl des Grossen Rates in Graubünden in einem reinen Majorzsystem verstosse gegen die Wahlrechtsgleichheit. Waren die Richter in Lausanne für die Bündnerinnen und Bündner nun «fremde Richter»? Natürlich nicht. Das Urteil wurde umgesetzt, das Bündnervolk genehmigte ein revidiertes Wahlgesetz und 2022 wurde der Grosse Rat erstmals in Übereinstimmung mit der Bundesverfassung nach dem neuen Verfahren gewählt.
Ein älteres Beispiel ist die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts in Appenzell Innerrhoden, bekanntlich am 27. November 1990 durch die Richter in Lausanne dem widerspenstigen Kanton schliesslich aufgezwungen, nachdem die Männer-Landsgemeinde die politische Gleichstellung beharrlich verweigert hatte. Waren die Richter in Lausanne damals «fremde Richter»? Einige der wackeren Mannen auf dem Landsgemeindeplatz in Appenzell haben das sicher so empfunden. Aber auch dieser Halbkanton gehört zur Eidgenossenschaft, weshalb das kantonale Recht auf seine Übereinstimmung mit der Bundesverfassung geprüft werden kann. Es waren keine «fremden» Richter, die den Appenzellerinnen zum Stimmrecht verholfen haben. Denn «fremde Richter» kann es eigentlich gar nicht geben.
*) Beide Zitate aus Alfred Kölz: Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen. Band II, Bern 2004, S. 578 ff.
Die Autorin war 1975–1977 Beamtin im EJPD mit Aufgabenbereich Einführung der EMRK in der Schweiz.