Das Kreisgericht in Rorschach hat einen Belarussen vom Vorwurf freigesprochen, sich 1999 an drei politischen Morden beteiligt zu haben. Im Geständnis des ehemaligen Elitesoldaten zeigen sich laut Gericht zu viele Ungereimtheiten. Die Vertreter der Opferfamilien haben bereits angekündigt, in Berufung zu gehen.
Die Anspannung am Kantonsgericht in St. Gallen war am Donnerstag mit Händen zu greifen. Denn bei der Urteilsverkündung im Todesschwadronen-Prozess ging es um viel: um politisch motivierte Morde, um die Beteiligung des Regimes von Belarus an den Verbrechen und um juristisches Neuland für die internationale Rechtsprechung. Vertreter der Opferfamilien und Menschenrechtsorganisationen, die Presse und der Angeklagte Juri Garawski warteten gebannt, als Richter Olaf Humbel pünktlich um drei Uhr nachmittags mit der Urteilsverkündung begann. Wegen der vielen Zuschauer wurde der Prozess in den Räumlichkeiten des Kantonsgerichts St. Gallen und nicht am zuständigen kleinen Kreisgericht in Rorschach abgehalten.
Der Beschuldigte, der ehemalige Elitesoldat Garawski, sass gebückt am Pult in der Mitte des Gerichtssaals. Er hatte in den vergangenen Jahren mehrfach gestanden, dass er als Teil einer staatlichen Todesschwadron mitgeholfen habe, 1999 drei politische Gegner des belarussischen Herrschers Alexander Lukaschenko umzubringen. Zuletzt schilderte er seine Beteiligung an den Verbrechen während der Gerichtsverhandlung vergangene Woche vor der versammelten Weltpresse. Sowohl die Staatsanwaltschaft, die Vertreter der Opferfamilien und die Verteidigung waren sich einig, dass die Geständnisse von Garawski in den wesentlichen Punkten glaubwürdig seien.
Trotzdem sprach ihn der Vorsitzende Richter Olaf Humbel am Donnerstag frei. Der Beschuldigte habe bei den verschiedenen Einvernahmen zu oft gelogen und zu viele verschiedene Versionen erzählt, meinte Humbel. «Insgesamt erscheinen die Aussagen des Beschuldigten nicht besonders glaubwürdig.» Es sei möglich, dass es Garawski einfach darum gegangen sei, sein Asylbegehren in der Schweiz mit möglichst dramatischen Schilderungen zu beeinflussen, sagte Humbel weiter.
Das Richtergremium, das neben Humbel aus zwei Laienrichtern bestand, hält es aber für möglich oder gar wahrscheinlich, dass Garawski Mitglied der militärischen Einheit gewesen sei, die für die politischen Morde verantwortlich ist. Auch die Entführungen und Morde könnten sich gemäss dem Richtergremium so zugetragen haben, wie der Beschuldigte es dem Gericht erzählt habe. Aus diesen Gründen verzichtete Richter Humbel darauf, Garawski wegen Irreführung der Rechtspflege zu verurteilen. «Unklar bleibt aber, ob und inwieweit er tatsächlich an der zur Anklage gebrachten Aktion beteiligt war.» Garawski hätte die Details der Verbrechen beispielsweise auch von seinen Kollegen beim Militär erfahren können, erklärte Humbel weiter.
Severin Walz, der Rechtsvertreter der Opferfamilien, hält den Freispruch für einen Fehler und hat bereits angekündigt, in Berufung gehen zu wollen. Dass sich der Beschuldigte vor dem Gericht anders geäussert habe als bei der Befragung durch die Staatsanwaltschaft, habe wahrscheinlich damit zu tun, dass er seine Verantwortung für die Verbrechen vor Gericht herunterspielen wollte, sagte Walz.
Die Verbrechen sind unbestritten
Gemäss einer Untersuchung des Europarats aus dem Jahr 2004 ist es unbestritten, dass 1999 in Belarus drei Oppositionelle umgebracht wurden und das Regime rund um den belarussischen Präsidenten Lukaschenko die Taten seither verschleiert hat. Den Opfern – der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko, der frühere stellvertretende Premierminister Viktor Gonchar und der Geschäftsmann Anatoly Krasowski – war gemeinsam, dass sie sich gegen die autoritäre Herrschaft von Lukaschenko auflehnten.
In St. Gallen stand indirekt auch das Regime Lukaschenkos für diese Verbrechen vor Gericht. Denn Garawski war wegen «Verschwindenlassens» angeklagt. Weil die Verbrechen in Belarus verübt wurden und sowohl Opfer und Täter Belarussen sind, konnte die St. Galler Staatsanwaltschaft Garawski nicht wegen Mittäterschaft oder Beihilfe zum Mord anklagen. «Verschwindenlassen» dagegen unterliegt dem sogenannten Weltrechtsprinzip. Es reduziert die Hürden für Anklagen im Ausland und wird vor allem bei Verstössen gegen das Völkerrecht angewendet.
Der Artikel 185 «Verschwindenlassen» des Schweizer Strafgesetzbuchs dient dazu, staatlich organisierte oder gebilligte Entführungen und Morde bekämpfen zu können, die im Land, wo sich die Tat ereignet hat, nicht verfolgt werden. Mit einer Verurteilung von Garawski hätte das Kreisgericht Rorschach damit auch bestätigt, dass das Lukaschenko-Regime für die Beseitigung von politischen Gegnern verantwortlich ist.
Doch das Richtergremium um Humbel stuft die Anwendbarkeit des Artikels 185 grundsätzlich als fragwürdig ein und ist der Meinung, dass er bei den am Prozess in St. Gallen beurteilten Entführungen und Hinrichtungen kaum anwendbar sei – selbst wenn die Aussagen des Beschuldigten Garawski glaubwürdig gewesen wären. Es war das erste Mal, dass sich in Europa ein Gericht mit dem Anklagepunkt «Verschwindenlassen» auseinandersetzte. Die negative Haltung des Richtergremiums dazu ist – neben den als unglaubwürdig eingeschätzten Aussagen von Garawski – eine grosse Enttäuschung für Menschrechtsorganisationen und die Angehörigen der Mordopfer. Deren Ziel, das Lukaschenko-Regime für die politischen Morde vor internationalen Gerichten zur Verantwortung zu ziehen, hat mit dieser Einschätzung des Richtergremiums einen Rückschlag erlitten.
Benoît Meystre, ein Rechtsberater der Menschenrechtsorganisation Trial International mit Sitz in Genf, sagte, der Prozess sei trotz dem enttäuschenden Ausgang bedeutend: «Zum ersten Mal überhaupt wurde jemandem wegen den politischen Morden in Belarus der Prozess gemacht.» Sowohl die Angehörigen der Mordopfer als auch die am Prozess anwesenden Menschenrechtsorganisationen betonten nach dem Urteil, dass ihre Anstrengungen, die Verantwortlichen für die politischen Morde zur Rechenschaft zu ziehen, weitergehen. Richter Humbel betonte zum Schluss der Urteilsverkündung auch, dass dieses Urteil kein Freispruch für das Regime in Belarus sei. Vielmehr dürfte durch diesen Prozess «der Schatten, der ... auf den Regimeangehörigen lastet, noch etwas dunkler geworden sein.»